03.10.2015

Terry Reintke (MEP): "Die Vereinigten Staaten von Europa sind der einzig gangbare Weg"

"Politisch mitmischen, laut sein und die Abgeordneten nerven" – nur einige Vorschläge von Terry Reintke (MEP), wie junge Menschen die EU nach ihren Wünschen mitgestalten können. Beim Polit-Battle des comeback 2015 positionierte sie sich klar für die Vereinigten Staaten von Europa. JUGEND für Europa sprach mit ihr darüber, welche Vorteile ein vereintes Europa mit Rückendeckung durch die Bevölkerung hätte.

JfE: Terry, beim diesjährigen Polit-Battle auf dem comeback zum Thema "Die Vereinigten Staaten von Europa – Vision oder Wahnsinn?" gab es zwei Positionen: Die Vereinigten Staaten von Europa mit Rückhalt durch die Bevölkerung wäre die große Vision, eine Zwangsvereinigung gegen den Willen der Mitgliedsländer wäre Wahnsinn. Wie sieht Deine persönliche Vision der Vereinigten Staaten Europas aus?

Terry Reintke: Ich glaube, dass die Vereinigten Staaten von Europa nicht nur der richtige, sondern der einzig gangbare Weg sind. Wir sehen jetzt gerade, dass die Europäische Union in einer tiefen Krise steckt, weil in vielen Bereichen nicht demokratisch genug entschieden wird, weil in vielen Bereichen nicht mit einer gemeinsamen Stimme gesprochen wird und das hat sowohl in der Flüchtlingspolitik als auch bei der Krisenpolitik in der Finanz- und Wirtschaftskrise zu absolut schrecklichen Auswirkungen geführt. Deshalb brauchen wir jetzt einen Schritt nach vorn zu den Vereinigten Staaten von Europa.
 
Welches Statement der Europäischen Freiwilligen hat Dich beim Polit-Battle am meisten überrascht?

Dass ein föderales Europa, die Vereinigten Staaten von Europa, noch immer gleichgesetzt wird mit einer Zentralregierung aus Brüssel, die alles entscheidet und bestimmt. Meines Erachtens ist das ganz weit entfernt von alldem, was Europäische Föderalisten wollen und aus der Erfahrung mit Föderalismus in der Europäischen Union entbehrt dies jeder Grundlage.

Es wird aber immer wieder genutzt, um eine Drohkulisse aufzubauen, Angst zu schüren und das überrascht mich immer wieder.

In den Jahren 2014 und 2015 hat die EU den betroffenen Mitgliedsstaaten mit über 25% Jugendarbeitslosigkeit über sechs Milliarden Euro zur Verfügung gestellt zur Initiierung von Programmen, die dieser Problemlage begegnen sollen. Gleichzeitig fährt sie eine enorme Sparpolitik gegen genau diese betroffenen Länder. Gäbe es so eine Situation nicht, wenn wir die Vereinigten Staaten von Europa hätten?

Ich würde hoffen: nein. Zumindest wäre die Politik dann weniger inkohärent, weil wir sehen, dass die Austeritätspolitik, die Krisenpolitik überhaupt nicht vom Europäischen Parlament mitgestaltet werden konnte, wir hatten da nichts zu sagen, kein einziges der Agreements und Memoranden ist jemals durch das Europäische Parlament gegangen.

Einerseits sollte gegen Jugendarbeitslosigkeit gekämpft werden und es war wichtig und richtig, da Gelder zur Verfügung zu stellen, andererseits ist ganz viel durch die Austeritätspolitik kaputt gemacht worden, die gerade den Ländern, die sowieso in einer schwierigen Situation sind, jede Luft zum Atmen genommen hat. Das ist zumindest meine Meinung.

Mit den Vereinigten Staaten von Europa könnte man an viel mehr Stellschrauben die Probleme lösen, zum Beispiel über eine gemeinsame Steuerpolitik, um eine Einnahmen-Basis herzustellen, damit eine Austeritätspolitik nicht mehr notwendig wäre, und eine viel koordiniertere Wirtschaftspolitik, damit nicht in Schwachsinn investiert wird, sondern in nachhaltige und sinnvolle Projekte. Man könnte aber auch, gerade was die Entscheidungskompetenzen angeht, sehr viel demokratischer agieren, als das im Rahmen von der Troika gemacht worden ist.

Deshalb sähen meiner Überzeugung nach die Ergebnisse in einem geeinten Europa sehr viel besser aus.

Blicken wir auf die Entwicklung der europäischen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren, so sehen wir, dass sich in Folge der Wirtschaftskrise viele EU-Skeptiker den Rechtspopulisten angeschlossen haben, darunter viele junge Leute. Kann ein Programm wie der Europäische Freiwilligendienst dem entgegenwirken, vor allem im Hinblick darauf, dass er ja doch ein Produkt für Wenige ist?

Ich glaube, dass das gesamte Erasmus+ Programm und auch der Europäische Freiwilligendienst Schritte in die richtige Richtung sind, und all die Leute, die heute da waren, und die den Europäischen Freiwilligendienst leisteten, schlussendlich auch Botschafter Europas werden. Natürlich werden sie auch mit vielen Problemen und Konflikten konfrontiert, aber grundsätzlich zu verstehen, was der europäische Gedanke ist, das ist ganz zentral.

Das Problem, was wir häufig haben, ist, dass es Leute sind, die aus einer weißen Mittelschicht stammen, die sowieso schon sehr pro-europäisch sind, mehrere europäische Sprachen sprechen und es deshalb sehr viel einfacher haben. Da glaube ich, dass man Programme wie Erasmus+ und den Europäischen Freiwilligendienst einfach finanziell noch besser ausstatten und ausbauen müsste, um solche Probleme anzugehen und dem Austausch einen Sprachkurs voranstellen für Leute, die noch keine Fremdsprache sprechen oder eine höhere Fördersumme zur Verfügung zu stellen für Leute, die nicht aus einem wohlhabenden Elternhaus kommen.

Wir sehen, dass es gilt, an verschiedenen Stellen und Ebenen anzupacken, um die Vision eines vereinigten Europa politisch und gesellschaftlich voranzubringen. Was genau können nun die einzelnen EFD-Rückkehrer dazu beitragen, um diese Vision real werden zu lassen?

Alle 2019 für das Europaparlament kandidieren! Politisch mitmischen, laut sein, E-Mails schreiben, sich in Debatten einbringen, die Europa-Abgeordneten nerven, die Bundestagsabgeordneten nerven, selber politisch aktiv werden.

Ich glaube, dass wir eine ganz laute Zivilgesellschaft brauchen. Ich merke es immer wieder, dass ich mit meinen Themen überhaupt nur durchkomme, wenn ich Leute hab, die draußen auf der Straße mit Trillerpfeifen stehen, und sagen 'Das kann nicht sein, was hier gerade passiert', und das, obwohl ich Europa-Abgeordnete bin. Das hat man bei ACTA gesehen, das sieht man bei TTIP, in den Debatten, die wir in anderen europäischen Ländern über die Mutterschutzrichtlinien geführt haben, da müssen Leute wirklich auf der Straße stehen und Stunk machen.

Gerade junge Europäerinnen und Europäer müssen da noch sehr viel stärker gehört werden, und da kann jeder Einzelne einen Beitrag leisten. Besonders die Menschen, die diese EFD-Erfahrung jetzt gemacht haben. Ich habe das immer als eine Verantwortung empfunden, mich einzubringen. Ohne irgendwen dazu zwingen zu wollen, aber ich denke, dass das ganz wichtig ist und dass eben nicht nur die Opas Europa regieren, sondern ganz viele junge und unterschiedliche Leute.

Terry Reintke ist Mitglied der Fraktion Die Grünen / Europäische Freie Allianz in Europäischen Parlament.

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Babette Pohle für JUGEND für Europa
Bild: David Ausserhofer, Berlin

Kommentare

  • Scholtens

    29.10.19 14:31

    "European literacy" ist dringend nötig, um die Vereinigten Staaten von Europa zu erreichen

    Mit den EFD-Rückkehrern, aber auch vielen Erasmus-Studenten, ehemaligen Teilnehmern en europäischen Schulprojekten (früher Comenius, jetzt Erasmus+), etc. gilt es darauf hin zu wirken, dass das Wissen über Europa und die EU verbesert wird, damit das in dem Interview Berichtete korrigiert werden kann und ein neuer europäischer Konvent zivilgesellschaftlich vorbereitet wird.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Alfons Scholten, Vorsitzender des EBB-AEDE e.V.

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