11.11.2016

Die Fluchtbewegung nach Europa als Bewährungsprobe für die internationale Jugendarbeit – Ergebnisse der Projektwerkstatt "Flucht, Asyl und Migration"

Internationale Jugendarbeit erfährt - leider vor allem auf Grund der europäischen Krise - im Moment mehr Anerkennung. Doch auch über tagespolitische Belange hinaus gilt es, sie zu stärken, so ein übergreifendes Fazit der "Projektwerkstatt Flucht, Asyl und Migration" in Loccum.

Mit der schwindenden Zustimmung der Bevölkerung und der Mitgliedstaaten zur europäischen Einigung, mit dem anhaltenden Krisenzustand – der Finanzkrise, der hohen Arbeitslosigkeit, und nun auch der Flüchtlingsintegration – befinde sich die Europäische Union in einer existenziellen Krise, so EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Rede zur Lage der Union vom 14. September. Zur Bekämpfung der Krise reiche eine Vision allein nicht aus.

Das sahen auch die 60 Teilnehmenden und Referenten der Projektwerkstatt “Flucht, Asyl und Migration in Europa” so. Mit sehr konkreten Projektideen und Ansätzen zum Werkstatt-Thema kamen sie vom 2. bis 4. November in der Evangelischen Akademie Loccum zusammen.

Organisiert wurde die Veranstaltung von der Evangelischen Akademie Loccum in Kooperation mit JUGEND für Europa (JfE), der Kontaktstelle “Europa für Bürgerinnen und Bürger” (KSEfBB) sowie der Nationalen Agentur beim Bundesinstitut für Berufsbildung (NA Bildung für Europa beim BIBB).

“Diese Kooperation der beiden Nationalen Agenturen mit der Kontaktstelle ist ein Novum”, so Manfred von Hebel (JUGEND für Europa). Programmatisch für die Veranstaltung – viele der Projektideen und Ansätze der Teilnehmenden zielen bei der Flüchtlingsintegration auf eine sektorübergreifende Zusammenarbeit verschiedener Bereiche – ist diese Kooperation auch Antwort auf die Eingangsfrage Manfred von Hebels: “Wie können wir mit dem Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION auf die Herausforderungen der Flüchtlingsintegration reagieren?” welche lautet: kooperativ, und das in mehrerlei Hinsicht.

Das Politische hält wieder Einzug in die internationale Jugendarbeit

Die Krise Europas stelle eine große Chance für den transnationalen Austausch im Bürger-, berufsbildenden und Jugendbereich dar, so der Sozialwissenschaftler und Referent bei der Projektwerkstatt Ulrich Ballhausen (Leibniz Universität Hannover). Die Pariser Erklärung der Bildungsminister vom März 2015, die auf die Anschläge von Paris und Kopenhagen im Januar und Februar 2015 reagierte, sei ein deutliches Zeichen dafür, dass man gerade durch die Krise den Stellenwert des internationalen Austausches – in dem Fall für die Jugend- und die politische Bildungsarbeit – erkannt habe.

Was auf die Erklärung der Bildungsminister folgte, war zum Beispiel die Erweiterung des Förderschwerpunktes von Erasmus+ JUGEND IN AKTION – neben dem bisherigen Fokus auf Employability und Berufsmarktorientierung ist nun auch Demokratiebildung, Antirassismusarbeit und die Einbeziehung Geflüchteter gleichermaßen relevant für die Bewertung der Anträge. Diese Tendenz setzt sich für Projekte ab 2017 fort; Manfred von Hebel bestätigte zudem aus der Praxis der Antragstellung bei JUGEND für Europa: Im vergangenen Jahr hätten sich die eingereichten Projekte zu einem Viertel bis zu einem Drittel mit dem Thema Flucht auseinandergesetzt.

Und so hält ein Gebiet wieder Einzug in die internationale Jugendarbeit, welches eigentlich originär zu ihr gehört, in den vergangenen Jahren aber, in denen der Förderschwerpunkt auf  dem Ausbau der Beschäftigungsfähigkeit lag, in den Hintergrund gerückt war: die politische Bildung. Das bedeutet nicht nur, dass sich internationale Begegnungsmaßnahmen thematisch mit politischen und politisch relevanten Themen auseinandersetzen, sondern auch, dass sich die Disziplin und die Fachkräfte der internationalen Jugendarbeit wieder viel stärker als politisch begreifen sollten – politisch im Sinne einer aktiven Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen, dem öffentlichen Leben und dem Bekenntnis dazu.

In diesem Sinne sei die internationale Jugendarbeit höchst relevant für die Integration von Geflüchteten in die Gesellschaft, so Ulrich Ballhausen. “Themen, die gesellschaftlich relevant sind, sollten auch zu Themen der internationalen Jugendarbeit, bzw. von internationalen Begegnungsmaßnahmen werden. Flucht und Asyl ist solch ein gesellschaftlich relevantes Thema.” Die Implementierung könne auf verschiedenen Ebenen passieren: Als inhaltlicher Schwerpunkt einer Begegnung, indem Geflüchtete und Menschen mit Migrationshintergrund integraler Bestandteil einer Begegnung und in der internationalen Jugendarbeit aktiv seien und indem sie auf diesem Gebiet als Experten aufträten und damit für eigene Interessen und Rechte einträten, fasst Ulrich Ballhausen zusammen.

Beiderseitige Integration

Die ehrenamtliche Arbeit ist dabei eine wichtige Säule, wenn es darum geht, Geflüchtete und den Themenkomplex Flucht und Migration in die Gesellschaft zu integrieren. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung, bezeichnete Ende 2015 die Ehrenamtlichenarbeit in der Flüchtlingshilfe sogar als "größte Bürgerbewegung der Bundesrepublik". Daniel Kraft, Pressesprecher der Bundeszentrale für Politische Bildung und Referent bei der Projektwerkstatt in Loccum betonte in seinem Inputvortrag zudem die Notwendigkeit der beiderseitigen Integration – die der Geflüchteten und die der aufnehmenden Gesellschaft, welche drohe, in populistische Ideologien abzurutschen. Geflüchtete seien für die politische Bildung dahingehend eine neue Zielgruppe. Ein weiterer Fokus sei für ihn die transnationale Zusammenarbeit, in der die politische Bildung keinesfalls fehlen, in der man sich auch kritischen Themen nicht verschließen dürfe.

Um für die beiderseitige Integrationsarbeit gewappnet zu sein, braucht man Argumente gegen Hass und Fremdenfeindlichkeit sowie ein Bewusstsein dafür, dass sich mit dem Zuzug Geflüchteter die deutsche Gesellschaft wandeln wird. Das "wir" differenziert sich, es kommen neue Perspektiven hinzu.

Das Wissen über Fluchtursachen, die europäische Flüchtlingspolitik und die damit einhergehenden Herausforderungen seien daher essentiell, wenn man zum Themenkomplex Flucht arbeitet, so Dr. Marcus Engler, Sozialwissenschaftler und Migrationsforscher aus Berlin und Referent bei der Projektwerkstatt. "Die Versorgung von Flüchtlingen ist kein materielles Problem", zitierte Dr. Engler den niederländischen Soziologen Hein de Haas und unterlegte dieses Argument mit einem Diagramm, welches den Anteil Geflüchteter an der gesamten Weltbevölkerung mit weniger als einem Prozent aufzeigte. Es sei vielmehr ein Problem der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung.

Nicht, dass die Zahl die anwesenden Teilnehmenden überrascht hätte. Das war auch nicht die Absicht von Dr. Engler. Vielmehr bekräftigte er damit die dringende Notwendigkeit politischer Bildung zum Themenfeld Flucht und Migration – auch in der internationalen Jugendbildung.

Förderung der bürgerschaftlichen Partizipation

Da sich der Fokus, den speziell das EU-Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION im Moment auf Demokratie- und politische Bildung richtet, und da sich der allgemeine Zuspruch, den die internationale Jugendarbeit im Moment genösse, auch recht schnell wieder abwenden könnten, müsse man das günstige Zeitfenster nutzen, um die gesellschaftspolitische Bedeutung, die die internationale Jugendarbeit zweifelsohne auch über aktuelle und tagespolitische Reaktionen hinaus hat, zu manifestieren, so die Einschätzung Ulrich Ballhausens.

Konkret sollten Akteure der internationalen Jugendarbeit stärker und öffentlich politisch auftreten, die Interessen ihres Tätigkeitsfeldes vertreten. Das könne passieren, indem man sich im kommunalen Jugendhilfeausschuss einbrächte, an den richtigen Stellen das Wort für die internationale Jugendarbeit ergreife, lokalen Entscheidungsträgern die Relevanz des Themenfeldes deutlich mache.

Ähnlich sieht es Judith Wind-Schreiber, Leiterin des Europabüros der Katholischen Jugendarbeit und Erwachsenenbildung in Brüssel und Referentin bei der Projektwerkstatt. Natürlich müsse man die Strukturen und Wege, die man gehen kann, zunächst verstehen, so Wind-Schreiber. "Den Weg über die Abgeordneten im Europäischen Parlament darf man als Möglichkeit der Einflussnahme nicht unterschätzen." Als besonders gewinnbringend sieht sie jedoch vor allem die politische Arbeit auf nationaler Ebene – in der Adressierung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Beispiel.

Walter Leitermann, stellvertretender Generalsekretär des Rates der Gemeinden und Regionen Europas machte ergänzend auf das Potential von Städtepartnerschaften aufmerksam und bekräftigte damit die Arbeit der "Kontaktstelle Europa für Bürgerinnen und Bürger", die einen Fokus auf die städtepartnerschaftliche Zusammenarbeit legt. Jede Stadt, jede Kommune habe, so Leitermann, internationale Partnerkommunen, mit denen man in Austausch treten und die sich gegenseitig unterstützen könnten. Historisch gewachsen und in den meisten Fällen politisch gewollt, haben Städtepartnerschaften auf kommunaler Ebene einen wichtigen Stellenwert, den man auch gezielt zur Lobbyarbeit für den transnationalen Austausch im Allgemeinen und / oder in der Jugendbildung nutzen könne.

Fazit: Die Krise als Bewährungsprobe

Sowohl Veranstalter als auch Teilnehmende sprachen zum Abschluss der Projektwerkstatt von einer sehr gelungenen Tagung. Dass die Projekte und Ansätze der Trägerorganisationen bei der Arbeit zum Themenfeld Flucht bereits sehr konkret seien, zeigen die vielen angeregten und differenzierten Gespräche, die Reaktionen auf die Referate und die gegenseitigen Beratungen, so Michael Marquart (NA BIBB) in seiner Bilanz der Tagung.

Die Anwesenden bestärkten sich gegenseitig in ihrer Arbeit, knüpften Kontakte für mögliche zukünftige Projekte und nahmen vor allem ein wichtiges Fazit mit: Ihr Engagement in transnationalen Projekten ist einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Die EU-Programme mit ihrem jugend- und bildungspolitischen Auftrag können eine Unterstützung dafür bieten, es zu erhalten und zu stärken.

(Text: Babette Pohle im Auftrag von JUGEND für Europa. Foto: Babette Pohle)

Kommentare

    Bislang gibt es zu diesem Beitrag noch keine Kommentare.

    Kommentar hinzufügen

    Wenn Sie sich einloggen, können Sie einen Kommentar verfassen.