02.05.2016

"Inklusion leben, nicht nur drüber sprechen"

Wie sieht gelebte Inklusion in Europa aus? Wie kann der Zugang zu Bildung für sozial benachteiligte junge Menschen geschaffen werden? Vor welchen Herausforderungen stehen die Träger? Und wie kann das Programm Erasmus+ zu mehr Inklusion beitragen? Darüber sprach JUGEND für Europa mit Barbara Eglitis vom Wiener Verein "Grenzenlos – Interkultureller Austausch". Das Projekt wurde beim Wiener Forum für "Inklusion und Bildung" als Beispiel Guter Praxis vorgestellt.

JfE: Frau Eglitis, was genau macht Ihre Organisation?

Barbara Eglitis: "Grenzenlos" ist eine 1949 gegründete österreichische Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Wien, die an keine Religion oder politische Partei gebunden ist. Der wesentliche Vereinszweck dient dem Weltfrieden und der Völkerverständigung durch internationale non formale Bildungsprogramme, die kulturelle Integration mit dem weltweiten Engagement für gemeinnützige Initiativen verbinden.

"Grenzenlos" steht dabei für Grenzüberschreitung im geographischen wie im persönlichen Sinn: interkulturelles Lernen als Möglichkeit der Völkerverständigung ebenso wie der persönlichen Entwicklung der Teilnehmer. Kernprogramm des Vereins ist das Freiwilligenaustauschprogramm ICYE (International Cultural Youth Exchange).

Welche Möglichkeiten bietet der Verein für das Thema Inklusion?

In enger Kooperation mit dem Verein "wienXtra" führt "Grenzenlos" für Wien das Programm Melange durch - den Europäischen Freiwilligendienst, der einen starken Inklusionfokus hat. Wiener Aufnahmeorganisationen, die Freiwillige mit Behinderungen aufnehmen, werden hier besonders unterstützt und gefördert. "Grenzenlos" selbst reserviert im Büro immer einen Platz für einen jungen Europäer im Rollstuhl.

In den Sommermonaten organisiert "Grenzenlos" integrative Sommerprojekte, bei denen jährlich Jugendliche aus schwierigen Lebenssituationen – mit und ohne Behinderung – mit jungen Menschen aus aller Welt für drei Wochen an einer gemeinsamen Sache arbeiten. Die Teilnahme an den Kurzzeit-Programmen wird für internationale Teilnehmer meist über das Programm Erasmus+ gefördert. Durch die "Accessing Campaign" von "Alliance of European Voluntary Service Organisations" haben wir die Möglichkeit, auch Teilnehmer außerhalb der Altersgruppe vom Europäischen Freiwilligendienst zu vermitteln.

Begleitend zu den Freiwilligendienst-Programmen hält "Grenzenlos" außerdem Trainings für andere europäische Jugendorganisationen zu Inklusionthemen ab und versucht anderen Organisationen Mut zu machen, Freiwillige mit Behinderungen und aus schwierigen Lebenssituationen in ihre Projekte einzubinden.

Welche Ergebnisse und Anregungen nehmen Sie von dem Wiener Forum mit? Gab es Aha-Effekte?

Besonders bereichernd fand ich den Austausch mit Organisationen aus anderen Bildungsbereichen. Persönlich nehme ich mit, dass Inklusion selbstverständlich werden muss und es nicht reicht, nur darüber zu reden. Inklusion muss gelebt werden.

Ich hätte mir gewünscht, dass mehr Teilnehmer mit Behinderungen aktiv an der Konferenz teilnehmen. Ein Aha-Effekt war für mich persönlich die Tatsache, dass es kaum Organisationen gibt, die Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Mobilitätsprogrammen aktiv anbieten und dass ein großes Interesse an generationsübergreifenden Projekten vorhanden ist. Mich haben die vielen Gespräche zwischen den offiziellen Vorträgen bewegt und es war sehr bereichernd zu sehen, wie sich viele mit dem Thema Inklusion auseinandersetzen.

Was muss passieren, damit die Themen Inklusion und Chancengleichheit noch stärker gefördert werden?

Wir brauchen mehr Aufklärungsarbeit bei Organisationen, die bereit sind, Projekte durchzuführen, aber unsicher sind, ob genügend Ressourcen für Unterstützung da ist. Außerdem ist es wichtig, dass Teilnehmer auf nationaler Ebene strukturell stärker unterstützt werden und durch die Teilnahme an einem internationalen Projekte keine Nachteile in ihrem Aufenthaltsland haben. Auch Flexibilität in der Durchführung wäre wichtig, dass es zum Beispiel ein Zusatzbudget für eine persönliche Assistenz, Übersetzer etc. gibt, das bedarfsabhängig auch nachträglich (zum Beispiel nach einem Vorbereitungsbesuch) beantragt werden kann. Denn so könnte auf die individuellen Bedürfnisse und Notwendigkeiten besser eingegangen werden.

Gleichzeitig brauchen wie eine stärkere Vernetzung der Multiplikatoren, die Interessenten auf das Programm und die Möglichkeiten aufmerksam machen und Projektmöglichkeiten anbieten. Wichtig ist, dass durch Änderungen und Verschiebungen für die durchführenden Organisationen nicht zusätzliche Kosten entstehen, die sie selbst tragen müssen.

Wie kann das Programm Erasmus+ zu mehr Inklusion beitragen?

Erasmus+ muss niedrigschwelliger werden. Derzeit ist es zwar möglich, Zusatzförderungen zu erhalten, die Abwicklung ist jedoch sehr umfangreich und mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden. Die Bedürfnisse der Teilnehmer spiegeln sich (noch) nicht in der Programmabwicklung wider. Wir haben oft mit Jugendlichen zu tun, die keine E-Mail-Adressen verwenden (können) und so keine Abschlussberichte schreiben können.

Zudem sind barrierefreie Veranstaltungs- und Übernachtungsorte meist teurer als andere und dies ist mit der Trainingspauschale von Erasmus+ nicht finanzierbar.

Außerdem ist es wichtig, dass die Sichtbarkeit für den Inklusionbereich größer wird, damit sich diese Zielgruppe auch angesprochen fühlt. Am Verständnis von Inklusion muss gearbeitet und Projekte und Programme mit unterschiedlichsten Themen barrierefrei gestaltet werden.

Welche Projekte wären in Zukunft wünschenswert?

In der Zukunft hätten wir gerne eine verstärkte Kooperations- und Vernetzungsmöglichkeit mit Institutionen im In- und Ausland, die mit Menschen mit Behinderung(en) arbeiten, diese aufnehmen könnten oder spannende Projekte gemeinsam entwickeln wollen. Wir würden uns freuen, wenn es noch mehr Organisationen gäbe, die Jugendliche aus schwierigen Lebenssituationen bzw. mit Behinderungen einbinden könnten. Unser Ziel ist es, noch vielen Wiener Freiwilligen einen Auslandseinsatz zu ermöglichen, der auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Auf welche Projekte sind Sie besonders stolz?

2005 hat "Grenzenlos" das Projekt "All Inclusive" durchgeführt, mit dessen Hilfe wir unsere Methoden und Expertise an Partnerorganisationen in Dänemark, Frankreich, Italien, Lettland, Polen und die Slowakei weitergeben konnten. Durch dieses Programm wurde die Mobilität von jungen Freiwilligen mit Behinderung gefördert, so genannte mixed ability-Gruppen-Projekte beworben und internationale Partnerschaften vertieft.

Bei all unseren Projekten sind wir darum bemüht, möglichst inklusiv zu planen und zu arbeiten. So mieten wir für alle Trainings eine barrierefreie Unterkunft und können unsere ehemaligen EFD-Freiwilligen, die Rollstuhlfahrer sind, auch manchmal als Trainer einbinden.

Welche Rückmeldung gibt es von den Jugendlichen?

Die Jugendlichen aus Wien, die an Freiwilligendiensten im Ausland teilgenommen haben, sind sehr motiviert zurück gekommen und stolz auf ihre Leistungen und die gewonnenen internationalen Freundschaften. Durch die sinnvollen Tätigkeiten und das Gefühl, gebraucht zu werden, ist ihr Selbstvertrauen durch den Einsatz gewachsen. Ihr Freiwilligendienst ist somit eine gute Basis für Bewerbungen für Jobs oder eine Ausbildung.

Europäische Freiwillige, die wir in Österreich begleiten durften, berichten ebenfalls von gesteigertem Selbstbewusstsein und einer besseren Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Talente. Eine andere Teilnehmerin meinte, dass sie jetzt klarere Vorstellungen davon hat, was sie später machen möchte.

Gibt es beim Thema "Inklusion" Dinge, die Sie ärgern?

Warum ist nicht jede Erasmus+ Konferenz mit Gebärdensprachdolmetscher und in barrierefreien Räumlichkeiten möglich? Warum waren nur so wenige Teilnehmer mit einer Behinderung anwesend? Das sind Fragen, die mich beschäftigen.

Außerdem ist es zwar schön zu sehen, dass die Idee des Programms offen ist, meist wird es aber Organisationen, die in diesem Bereich arbeiten, nicht leicht gemacht, ihre Projekte abzuwickeln, zum Beispiel wenn es Änderungen gibt, die in diesem Bereichen vielleicht öfter auftreten als bei "regulären" Projekten.

Ärgerlich ist auch, dass es nur wenige Organisationen gibt, die sich die Mühe machen, passende Kandidaten für die EFD-Projekte zu finden und statt dessen hochqualifizierte, fast fertige Studenten diese Plätze in Anspruch nehmen, obwohl diese auf andere Mobilitätsprogramme im Rahmen von Erasmus+ ausweichen könnten. Dies führt wiederum dazu, dass Aufnahmeprojekte ebenfalls weniger bereit sind, sich an inklusiven Projekten zu beteiligen.

Der EFD ist nach wie vor die einzige Möglichkeit für Jugendliche mit einem erhöhten Förderbedarf an Auslandsprojekten teilzunehmen. Wir hoffen, dass diese Möglichkeit noch lange bestehen bleibt.

(Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa.)

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Mehr zur Arbeit des Vereins "Grenzenlos" erfahren Sie hier...

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