13.04.2016

"Inklusion muss endlich auch als Prozess inklusiv sein"

Annett Wiedermann vom YES ForumWie sieht gelebte Inklusion in Deutschland und Europa aus? Wie kann der Zugang zu Bildung für sozial benachteiligte junge Menschen geschaffen werden? Vor welchen Herausforderungen stehen die Träger? Darüber sprach JUGEND für Europa mit Annett Wiedermann, Geschäftsführerin des YES Forum mit Sitz in Stuttgart. Ihr Projekt wurde beim Wiener Forum für "Inklusion und Bildung" als Beispiel Guter Praxis vorgestellt.

JfE: Frau Wiedermann, für alle, die das YES Forum noch nicht kennen: Können Sie Ihr Netzwerk bitte noch mal beschreiben?

Annett Wiedermann: Das YES Forum wurde 2002 gegründet und ist das europäische Netzwerk für Jugendsozialarbeit. Unsere 34 Mitglieder aus 18 verschiedenen europäischen Ländern sind in den Bereichen Jugendhilfe bzw. Jugendarbeit tätig. Dabei arbeiten die Fachkräfte dauerhaft mit benachteiligten Jugendlichen zusammen.

Das YES Forum fungiert wie ein Aufzug. Es holt die verschiedenen Beteiligten (Jugendliche, Fachkräfte, politische Entscheidungsträger) im Jugendbereich dort ab, wo sie stehen und bringt sie mit anderen Ebenen in Kontakt. Dabei fungieren wir als politische Interessensvertretung, bieten Raum für den Austausch von best practice, informieren über europäische Entwicklungen und initiieren eigene Projekte / Veranstaltungen für Jugendliche und Fachkräfte.

Welche Möglichkeiten bietet das YES Forum für das Thema Inklusion?

Durch die Arbeit mit benachteiligten Jugendlichen sind unsere Mitglieder schon sehr lange aktiv am Inklusions-Prozess beteiligt. Gemeinsame Grundlage ist der Wunsch, die Stimmen der Jugendlichen im öffentlichen Diskurs hörbar zu machen und so Zugänge zu ermöglichen.

Die zentrale Frage lautet: Wie schaffen wir die Inklusion von weniger privilegierten jungen Menschen in die Gesellschaft, Politik und europäische Prozesse?

Wir sehen, dass europäische Projekte oft eine sozial bzw. ökonomisch bevorzugte Zielgruppe ansprechen. Das YES Forum und unsere Mitgliedsorganisationen können auf eine große Expertise im Inkludieren von benachteiligten Gruppen in grenzüberschreitende Projekte zurückgreifen. Leider sind wir aber auch an Strukturen gebunden, die es uns manchmal schwer machen, in diesem Bereich viel zu leisten.

Was muss denn passieren, damit die Themen Inklusion und Chancengleichheit noch stärker gefördert werden?

Inklusion ist ein Prozess, der offene, niedrigschwellige und variable Zugänge erfordert. Dafür müssen Strukturen geschaffen werden, die je nach Bereich Zeit kosten und Personal erfordern. Wir erleben aber gerade überall bei unseren Mitgliedsorganisationen, dass sich Länder, Städte und Gemeinden aus der Förderung im Jugendbereich zurückziehen. In einigen europäischen Ländern kann man auch gar nicht von einer Struktur sprechen. Das erschwert und behindert wirkliche Inklusionsarbeit.

Bei Mobilitätsprojekten von Erasmus+ fehlt es oft an der nötigen Ko-Finanzierung für die Umsetzung. Besonders bei der Arbeit mit unserer Zielgruppe gibt es einen erhöhten Personalbedarf. Benachteiligte Jugendliche brauchen für ein erfolgreiches und nachhaltiges europäisches Projekt die Begleitung von Fachkräften. Wenn dies finanziell jedoch nicht abgedeckt ist, da Personalkosten nur in Ausnahmefällen gefördert werden, leidet die Qualität von Mobilitäts-Projekten bzw. sie finden nicht mehr statt.

Reise- und Aktivitätskosten sind eine Anteilsfinanzierung, für die Antragsteller ebenfalls Ko-Finanzierung sicherstellen müssen. Dies funktioniert nicht über die finanzielle Beteiligung der Zielgruppe. Träger müssen zusätzliche Mittel zur Verfügung haben, um erfolgreich Projekte umsetzen zu können. Diese Mittel zu bekommen, ist überall in Europa schwerer geworden.

Welche Entwicklung sehen Sie bei dem Thema in den nächsten Jahren?

Wir sehen schon jetzt, dass das Thema "Europäische Mobilität" für viele Organisationen zu einem Randthema wird. Überall herrscht das Problem des Kostendrucks. Nationalstaaten sparen besonders im Jugendbereich ein, was die Organisationen vor die paradoxe Situation des "Do more with less" stellt.

Die Organisationen müssen um ihr eigenes Überleben kämpfen und da fallen europäische Projekte, die einen hohen Zeitaufwand bei nicht ausreichender Finanzierung bedeuten, schnell weg.

Was hat sich das YES Forum für die Zukunft vorgenommen?

Wir wollen weiterhin ein verlässlicher Partner für Organisationen sein und zur Inklusion von benachteiligten Jugendlichen auf europäischer Ebene beitragen. Durch weitere Vernetzung und die Darstellung der Probleme im strukturellen Bereich hoffen wir, dass der Jugendbereich im Programm Erasmus+ sukzessive besser ausgestattet wird.

Was kann das Programm Erasmus+ dazu beitragen?

Erasmus+ kann nur gelingen, wenn die Mitgliedstaaten Strukturen der Jugendarbeit und Jugendhilfe adäquat fördern. Nur mit stabilen Strukturen sind qualitativ hochwertige Projekte – inklusive Projekte möglich.

Wenn dies geschieht, ist Erasmus+ ein Baustein auf dem Weg zu einem inklusiven Europa. Junge benachteiligte Menschen können so selbst zu Multiplikatoren von Inklusion und europäischen Werten werden. Es ist damit ein aktiver Teil in dem Bestreben gegen die Radikalisierung von Jugendlichen.

Welche Projekte wären in Zukunft wünschenswert?

Wünschenswert sind mehr partizipative Projekte, wie wir sie im YES Forum auch anbieten. Projekte, die Jugendliche miteinschließen anstatt nur etwas für sie zu machen. Etwas mit ihnen zusammen zu machen, ist der Schlüssel, um die Nöte und Bedürfnisse ernst zu nehmen.

Auf welche Projekte sind Sie besonders stolz?

Durch unsere Teilnahme am EVS4all-Projekt schaffen wir Chancen für Jugendliche, einen EFD zu machen, die normalerweise nicht berücksichtigt werden. Der Anteil benachteiligter Jugendlicher an diesem Programm ist sehr gering. Wir unterstützen in diesem Projekt besonders die Beteiligung von Jugendlichen, die noch nie an Mobilitätsprogrammen teilgenommen haben.

In unserem Projekt „Our Life. Our Voice. Young people and poverty.” sind Arbeitsgruppen von Jugendlichen ein fester Bestandteil. Sie untersuchen über drei Jahre Armut in ihrem Land und was das für sie bedeutet. Dadurch geben wir den Stimmen und Meinungen von ökonomisch schwachen jungen Menschen im europäischen Diskurs Gehör. Wir machen auf Probleme aufmerksam, die den Policy-Verantwortlichen nicht auffallen und haben somit Einfluss auf die Politik auf nationaler sowie europäischer Ebene. Darüber hinaus sammeln wir best-practice-Beispiele im Umgang mit verschiedenen Problemen innerhalb desselben Themenbereichs.

Welche Rückmeldung gibt es von den Jugendlichen?

Die Rückmeldungen der Jugendlichen sind durchweg positiv. In den o.g. Projekten sind sie die Hauptakteure. Die Sozialarbeiter übernehmen eine unterstützende Rolle, entscheiden aber nicht über Themen, die bearbeitet werden. Die positive Rezeption ist der guten Betreuung durch Fachpersonal bei Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung zu verdanken. Das Interesse der Jugendlichen an Europa ist nicht weniger geworden, wir sehen eher die Probleme in den institutionellen Strukturen.

Gibt es beim Thema Inklusion Dinge, die Sie ärgern?

Inklusion ist immer noch ein Thema, über das an hoher Stelle geredet wird, das aber zu wenig die Betroffenen miteinschließt. Beim Forum "Inklusion und Bildung" waren zum Beispiel nicht die jungen Leute präsent, über die während der Veranstaltung diskutiert wurde. Das bedeutet: Die Zielgruppe, an der wir uns alle orientieren müssen, ist nicht direkt zu Wort gekommen. Inklusion kann aber nur dann gelingen, wenn wir deren Wünsche, Nöte und Bedürfnisse wirklich und wahrhaftig kennen.

Der Prozess der Inklusion muss schon in sich ein inklusiver sein. Das ist er im Moment nicht.

(Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa / Foto: Annett Wiedermann)

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