03.03.2016

Verloren zwischen Paragraphen und Zuständigkeiten?

Die Strategische Partnerschaft "OVERHOPE" sucht Lösungen für wohnungslose und obdachlose Jugendliche

"Holt die Jugendlichen von der Straße", ist ein schnell dahingesagter Topos, der so lange harmlos klingt, wie diese Jugendlichen nicht wirklich auf der Straße leben. Und "Couch Hopping" ist keine hippe Art des Reisens, sondern das, was Jugendliche oft machen, wenn sie zuhause rausgeflogen und damit wohnungslos sind. Aber irgendwann sind die Beziehungen zu Freunden und Bekannten so strapaziert, dass man weiterziehen muss. Dann landen viele junge Leute in Übergangsheimen, Winternotquartieren oder eben auf der Straße.

Jugendliche brauchen besondere Unterstützung  

Jörg Hutter, Bereichsleiter bei der Jugendbildung Hamburg gGmbH, kennt die Probleme dieser Jugendlichen gut. Die Jugendbildung Hamburg bietet geförderte Ausbildungsgänge für benachteiligte Jugendliche und hat dabei immer wieder mit obdachlosen jungen Menschen zu tun.

Dass dies kein sporadisches Problem ist, zeigte eine 2011 vom Träger durchgeführte interne Erhebung. Die ergab je nach Maßnahmetyp einen Anteil zwischen 7 und 37 % obdachloser oder wohnungsloser Jugendlicher. Bei 600 Auszubildenden im Jahr sind das 42 Personen, eine Menge, die Hutter als "einfach erschreckend" beschreibt.

Die Frage, wo junge Menschen die Nacht verbringen sollen, "wenn sie hier mit der Tasche in der Hand auf der Matte stehen und nicht weiterwissen", ist nur ein Aspekt des Problems. Ein anderer ist seine Erfahrung, dass Jugendliche im Hilfesystem, das es für Obdachlose gibt, keine richtigen Ansprechpartner finden. Unterkünfte sind in der Regel für Erwachsene gedacht, Beratungsstellen auch. Als Träger der freien Jugendhilfe sieht Hutter hier Handlungsbedarf.

Anders als Stellen der Wohnungslosenhilfe, die Menschen mit Mahlzeiten und Wohnungen versorgen, sieht er sich in der Pflicht, Jugendliche zu befähigen, ein eigenständiges Leben zu führen. Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe-System arbeiten hier oft neben- und manchmal gar gegeneinander, und wenn es gut läuft, kommt der Ausbildungs- und Beschäftigungssektor als weiteres "System" hinzu.

Hamburg hat zur Lösung des Problems ein kleines Programm aufgesetzt, das jugendlichen ALG-II-Empfängern mit Sozialarbeit und Ausbildung hilft. Das aber reicht lange nicht, meint Hutter. Das Problem sei ohnehin auf der kommunalen Ebene nur begrenzt lösbar. Viele Jugendliche, zumal verwundbare, gehen zwischen Paragraphen und Zuständigkeiten verloren.

... überall in Europa

Damit sind Phänomen und Hilfeprobleme schon hinreichend umrissen, welche die Jugendbildung Hamburg auf die Idee brachte, europaweit initiativ zu werden. Denn nicht nur in Hamburg oder Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus gibt es Jugendliche, die allein, ohne Wohnung oder Obdach und ohne Ausbildung oder Arbeit sind. Inzwischen kommt eine größere Anzahl unbegleiteter geflüchteter Jugendlicher hinzu. Und fast überall fallen diese jungen Menschen zwischen die bürokratischen Raster.

"Was fehlt", meint Jörg Hutter, "ist eine separate Betrachtung des Problems. Vielleicht gibt es anderswo Lösungsmodelle, vielleicht kann man voneinander lernen", begründet er seine Ausgangsidee für das europäische Projekt "OVERHOPE".

Das von der Jugendbildung Hamburg initiierte Projekt wird seit November 2014 im Rahmen einer Strategischen Partnerschaft im EU-Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION durchgeführt. Das Format fördert innovative Projekte, welche die Qualität im Bildungs- und Jugendbereich durch eine internationale (und wo sinnvoll sektorübergreifende) Zusammenarbeit verbessern soll.

Bei Letzterem geht es beispielweise um eine stärkere Verbindung zwischen dem Bildungs- und Jugendbereich mit der Arbeitswelt – wie geschaffen für das Projekt der Jugendbildung Hamburg. "Von Anfang an wurde die Partnerschaft deshalb sektorübergreifend angelegt", erzählt Jörg Hutter. Man zielt auf eine Verknüpfung von Qualifizierung und Ausbildung mit der Jugendhilfe.

Die über das SALTO Youth Net gefundenen Partner kommen aus Deutschland, Rumänien, Italien, Weißrussland, Portugal und der Türkei. Der Erfolg des Aufrufs hat die Hamburger überrascht. Nach einer Woche gab es 15 Partneranfragen – eine Resonanz, die auf die Dringlichkeit des Themas schließen lässt.

Die Partner arbeiten unter sehr unterschiedlichen Bedingungen für die betroffenen Jugendlichen ebenso wie für die Hilfeorganisationen. "In anderen Ländern gibt es noch viel massivere Probleme als hier", stimmt Jörg Hutter zu. Dennoch empfindet er dies nicht als Hindernis für die Verständigung. "Es gibt viele Unterschiede", berichtet er und nennt als Beispiel das starke soziale Gefälle in Rumänien. Für die Länder mit EU-Außengrenzen ist das Problem der inländischen Jugendlichen und das geflüchteter Jugendlicher kaum trennbar.

Strukturelle Veränderungen sind nötig

Aber es geht nicht nur darum, sich über die Mangelsituation auszutauschen. Die Erwartungen an die Partnerschaft sind größer. Der Arbeitsplan sieht Treffen bei den beteiligten Partnern vor, um sich vor Ort über die Situation zu informieren.

Zur Vorbereitung erarbeitet jede Organisation für ihre Region bzw. Land Antworten zu sieben Fragestellungen. Dazu zählt eine Recherche zur Anzahl wohnungsloser Jugendlicher und zu den Sichtweisen der Betroffenen, Best Practise-Lösungen zur Überwindung von Obdachlosigkeit und Best Practise-Lösungen zur Integration in den Arbeitsmarkt, Vorschläge zur Verbesserung der Infrastruktur sowie politische Forderungen zur Verbesserung der Infrastruktur und den Rahmenbedingungen. Hinzu kommt eine Literaturrecherche zu europäischen Sichtweisen auf das Problem.

"Man kann das Problem nicht nur auf einer rein praktischen, technischen Ebene lösen, mit einer besseren Sozialarbeit, sondern es muss sich auch strukturell etwas verändern", erläutert Jörg Hutter. Es beginnt bereits damit, wie obdachlose Jugendliche statistisch erfasst und damit öffentlich wahrgenommen werden. Oft werden nur die gezählt, die bei den offiziellen Beratungsstellen auflaufen und registriert sind.

Hinzu kommt, dass es "sowohl in Bukarest als auch in Hamburg oder Italien strikte Aufnahmeregeln gibt. Viele Betroffene profitieren gar nicht von den Unterstützungssystemen, und so wird nur ein Bruchteil der Betroffenen erfasst."

Kollegen aus Bukarest und Cosenza berichteten bei den Partnerschaftstreffen über Roma Familien, "die absolut rechtlos sind und deren Kinder überhaupt keine Zugänge zum Bildungssystem haben". Roma würden auch in Deutschland, sobald sie in Camps, Lagern, teilweise auf den Straßen leben, nicht gezählt. Und auch hier gilt: Wer nicht registriert ist, hat kaum eine Chance auf Sozialleistungen oder Zugang zum Bildungs- und Berufssystem.

Spätestens bei diesem Thema sieht er die Grenzen des national Möglichen erreicht: "Viele Roma in Italien kommen aus Rumänien, Italien schiebt sie wieder zurück. Und in Bukarest wurde eine ganze Siedlung aufgelöst, weil ein schwedisches Bauunternehmen den Ort als Spekulationsobjekt nutzen wollte. Wo sollen die Betroffenen ihre Rechte geltend machen? Da kommt man eigentlich nur auf europäischer Ebene weiter."

OVERHOPE heißt "Overcome Homelessness of Young People", aber es heißt auch Hoffnung, Vorfreude, Erwartung. Sieht Jörg Hutter schon Lösungen am Horizont der Partnerschaftsarbeit? "Mittlerweile haben wir vier Treffen hinter uns", sagt er. "Und es ist eigentlich klar, dass überall die Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärker in den Fokus rücken müssen, damit ihnen rechtzeitig geholfen werden kann und sich der Teufelskreis aus Wohnungslosigkeit und fehlender Ausbildung nicht verfestigt."

Das Projekt geht noch bis August 2017. Dann soll es mit einer Abschlussdokumentation auch Handlungsempfehlungen geben.

(Dr. Helle Becker für JUGEND für Europa)

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Weiterführende Informationen

Mehr Informationen zum Projekt OVERHOPE bekommen Sie hier...

Alle Informationen, wie Strategische Partnerschaften im EU-Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION gefördert werden können, erhalten Sie auf unserer Internetseite www.jugend-in-aktion.de.

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