17.02.2011

Vom Wunsch, in Würde zu leben. Koptische Jugendliche in Ägypten

Aus aktuellem Anlass sprach JUGEND für Europa mit Martin Kaiser, Leiter der PfalzAkademie und lange Jahre aktiv im Jugendaustausch mit Ägypten.

JfE: Herr Kaiser, welche Erfahrungen haben Sie im deutsch-ägyptischen Jugendaustausch?

Martin Kaiser: Ich organisiere seit 1994 den Austausch von Jugend- und Fachkräften aus Ägypten, zuerst als bilaterale Begegnungen und gefördert aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans des Bundes. Seit 1998 sind es multilaterale Veranstaltungen unter Beteiligung von Israel und Großbritannien, seit 2001 auch mit Palästina, Litauen und Nord-Irland.

Diese Begegnungen werden seit einigen Jahren durch das EURO-MED-Programm im Rahmen von JUGEND bzw. JUGEND IN AKTION gefördert. Immer ging es um die Verbindung von interreligiösem Dialog, interkulturellem Lernen und politischer Bildung.

Wer sind Ihre Austauschpartner?

Unser Partner in Ägypten ist das Bayad Retreat and Conference Center in Beni Suef, ein Bildungszentrum der Koptischen Kirche. Es ist ein sehr großes Zentrum, 120 km südlich von Kairo im Niltal in Ober-Ägypten gelegen.

Ober-Ägypten ist eine ländlich geprägte Region mit einer schwachen Infrastruktur. Das merkt man auch an den Aktivitäten der Partnerorganisation. Sie führt sehr viele ‚bodenständige‘ Projekte durch, Alphabetisierungsprojekte, Projekte für benachteiligte Mädchen oder praktische Maßnahmen zur Berufsausbildung.

Das Zentrum spricht sowohl Jungen wie Mädchen und seit einigen Jahren auch christliche und moslemische Zielgruppen an.

Wir hören in den letzten Tagen viel über Unterdrückung und Diskriminierung in Ägypten. Sie arbeiten mit einer benachteiligten religiösen Minderheit zusammen. Welche Erfahrungen haben Sie mit den offiziellen Stellen in Ägypten gemacht?

Generell muss man im gesellschaftlichen Miteinander immer darauf achten: Von wem geht die Initiative aus, wer darf wen einladen, wer fühlt sich mit wem in der Gesellschaft wohl, was hat es für eine Öffentlichkeitswirkung – das ist eine sehr sensible Sache.

So hätte das Bayad Center offiziell nicht an den bilateralen Sondermaßnahmen des KJP-Programms teilnehmen können, weil von ägyptischer Seite nur Organisationen zugelassen waren, die beim Obersten Rat für Jugend und Sport registriert waren – für eine koptische Organisation unmöglich.

Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es vor Ort Menschen auf christlicher wie muslimischer Seite gibt, die uns unterstützen. Auch in der Regierung gab es progressive Moslems, die wollten, dass die koptischen Organisationen an internationalen Programmen beteiligt werden.

Das wurde dann allerdings nicht an die große Glocke gehängt, weil dann jemand unter Rechtfertigungsdruck geraten kann. Allerdings haben wir es bisher nicht geschafft, dass sich gemischte moslemisch-christliche Gruppen am Austausch beteiligt hätten.

Die Religionszugehörigkeit spielt also eine große Rolle?

Die Religionszugehörigkeit spielt eine Rolle. Kopten haben weniger Zugang zu Bildungs- und Entscheidungsressourcen und zu politischer Repräsentation. Für sie ist es viel schwieriger, im Staatsdienst zu arbeiten.

Im Alltag allerdings handelt es sich bei dem, was wir als Charakteristika der Religionszugehörigkeit betrachten, vielfach um eher kulturelle Eigenarten. Zum Beispiel wenn sich zwei verlieben. Das ist sehr schwierig. Ehen handeln die Familien aus, man darf sich vorher nicht sehen. Das gilt für christliche wie muslimische Familien gleichermaßen. Mischehen gehen gar nicht. Kein Wunder, dass viele Jugendliche das Handy oder das Internet als Schlupflöcher für eine Kontaktaufnahme nutzen.

Andererseits sind die jungen Leute sehr religiös. Sie beschreiben Religion als unmittelbaren Bestandteil ihres Alltagslebens und ihres gesamten Lebensweges. Das ist interessant, weil wir das oft nur den Moslems unterstellen.

Welche sonstigen Eindrücke haben Sie von der Jugend in Ägypten? In unserer Presse gelten sie ja als "Motor der Revolution".

‚Die Jugend‘ gibt es sicher nicht. Es gibt enorme Unterschiede, schon mal zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen. Auch die Gegensätze zwischen arm und reich sind extrem. In großen Städten wie Kairo, Assuan oder Suez ist das Leben völlig anders als in Städten und Dörfern in eher ländlichen Regionen.

Die Orte lassen sich unterschiedlichen Modernisierungsgraden zuordnen. Wir haben unter Umständen in Kairo Postmoderne und 200 km weiter südlich vorindustrielles Zeitalter. Da wird einer zum Dorfältesten gemacht, weil er es geschafft hat, Strom ins Dorf zu bringen. Er wird damit zur Führungsfigur, zum "natural leader". Dürfen wir da unsere Demokratiemaßstäbe anwenden? Wenn ich ernsthaft interkulturellen Dialog führe, bin ich da nicht so sicher.

Entsprechend ist auch die Einstellung der Jugendlichen verschieden, zum Beispiel in Bezug auf die Rolle von Frauen oder was ist Demokratie oder was sind Menschenrechte? Ich glaube, dass Jugendliche, die gut ausgebildet sind und in Kairo leben, Europa und dem Westen viel näher sind als solche in ländlichen Regionen. Und die Bilder, die wir von den Demonstrationen haben, stammen aus den großen Städten. Die meisten, die ich aus den ländlichen Regionen kenne, bekomme ich nicht so leicht mit Bildern zusammen, wie ich sie im Fernsehen sehe.

Wird die Revolution auf dem Land denn überhaupt wahrgenommen?

Oh ja! Natürlich haben die Menschen auf dem Land weniger Zugang zu Medien oder Internet. Andererseits redet man noch viel mehr miteinander. Und Handys sind recht weit verbreitet.

Wie stehen die Partner im Niltal zu den politischen Ereignissen?

Sie sehen sie mit Sicherheit als große Chance. Ich bekam vorletzte Woche, also noch vor dem Rücktritt von Mubarak, eine E-Mail aus Ägypten. Ich zitiere mal auf Englisch: "We found the current situation as if god gave us back our dignity and rights. Not only as Egyptians but also as Christians."

Das schreibt der Abuna, der Priester, der mein Hauptkontaktpartner ist: "Gott hat uns unsere Würde und Rechte zurückgegeben, nicht nur als Ägypter, sondern auch als Christen." Anschließend bittet er die Freunde im Ausland, für sie zu beten. Gott ist eben immer beteiligt.

Deswegen denke ich auch, die Jugendlichen dort ließen sich über eine religiöse Schiene mobilisieren, dann würden sie auch etwas riskieren. Ihr gesamtes Leben ist von Religion durchdrungen und da müsste es eine Verbindung zwischen Religion und Politik geben. Das ist eine persönliche These, die auf meinen Erfahrungen beruht. Wie gesagt, wir sprechen von Christinnen und Christen.

Das klingt aber nach Hoffnung auf ein besseres Leben. Ist nicht zu erwarten, dass demnächst viele Jugendliche Ägypten verlassen, so wie das in Tunesien zurzeit zu beobachten ist?

Ich kenne nicht viele Ägypter, die aus Ägypten raus wollen. Die meisten sagen: Wir sind gut ausgebildet und unsere Aufgabe ist es, in Ägypten zu wirken. Selbst die Kopten fühlen sich zunächst mal als Ägypter und nicht als koptische Minderheit.

Welche Zukunftsvision haben Sie von einer Demokratie in Ägypten?

Ich betrachte das, was im Augenblick passiert, als einen offenen Prozess. Es gibt ein großes, pluralistisches Spektrum von Gruppen, sowohl solche, die man bei uns als Fundamentalisten bezeichnen würde, als auch sehr liberale Gruppen. Deswegen würde ich auch jetzt nicht automatisch, aufgrund von Projektionen und Assoziationen, in Panik verfallen, wenn von der Moslembruderschaft die Rede ist. Auch die besteht aus gemäßigt liberalen und extremen Gruppen. Ich glaube an einen offenen Prozess, der gestaltbar ist, weil ganz verschiedene Kräfte beteiligt sind.

Ich glaube auch, dass mit dem Aufstand eine ägyptische Zivilgesellschaft sprunghaft zu Tage getreten ist. Unsere Partner sind ein Beispiel für eine zivilgesellschaftliche Organisation. Und ich glaube, davon gibt es noch mehr, auch wenn ich keine systematischen Einblicke habe.

Wovon träumen ägyptische Jugendliche auf dem Land?

Der Wunsch, in Würde zu leben, ist wichtig für das eigene Selbstbild und ein zentraler Aspekt für die gesamte ägyptische Gesellschaft. Zur Würde gehört dabei auch gerechtere Verteilung und Überwindung der Armut. Harmonie mit Gott und eine Familie und Kinder.

Aber sie wünschen sich auch, als Kopten nicht unterdrückt zu sein und gleiche Chancen zu haben. Ein friedliches Nebeneinander, Chancengleichheit, keine Diskriminierung, das wünschen sie sich.

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Das Interview führte Helle Becker.

Informationen zum Programm der PfalzAkademie finden Sie unter www.pfalzakademie.de.

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