04.10.2006

"Ich würde empfehlen, einmal die Genderbrille aufzusetzen…"

Jürgen Budde ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg im Fachbereich Erziehungswissenschaft. Er war als Referent auf der Tagung „Gender in Focus“ und empfiehlt einen „emphatischen Blick“ auf Jungen und junge Männer.

JfE: Herr Budde, in welcher Funktion sind Sie hier?

Jürgen Budde: Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg im Fachbereich Erziehungswissenschaft und arbeite im Bereich kritischer  Männlichkeitsforschung, Gender-Studies und Jungenarbeit. Außerdem bin ich freiberuflicher Mitarbeiter in der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille, die in ihrer Jugendarbeit seit 20 Jahren Gender zum Thema macht und engagiere mich in der Dokumentationsstelle Jungenarbeit.

JfE: Was interessiert Sie an Fragen der männlichen Sozialisation?

Jürgen Budde: Ich beschäftigte mich mit Gendertheorien im wissenschaftlichen Rahmen und mit der Frage, ob und welche Differenzen es zwischen Jugend und Mädchen gibt. Mein Anliegen ist es, die männliche Seite in den Blick zu bekommen, wenn man über Gender redet. Jungen werden häufig unter dem Aspekt gesehen, dass sie Probleme machen, wenn sie tradierten Bilder folgen. Sie haben aber auch viele Probleme, weil sie diesen Bildern nacheifern. Dass heißt, man sollte erkennen, dass es auch durchaus eine Zumutung ist, „ein Mann zu werden“. Die Rolle bedeutet viel Risiko der Lebensführung, auch die Erwartung gewaltförmigen Handelns und andere Rollenerwartungen. Aber es gibt auch Jungs ohne Probleme, das gerät manchmal in Vergessenheit!

JfE: Zurzeit wird viel darüber diskutiert, dass Jungen in der Schule benachteiligt werden.

Jürgen Budde: Der aktuelle Diskurs um die Benachteiligung von Jungen, aufgehängt am schulischen Leistungsbereich, ist mein Forschungsfeld, zu dem ich gerade ein Buch veröffentlicht habe. Ich halte jedoch die pauschale Schlussfolgerung, Jungen würden per se benachteiligt und man müsse daher mehr für die Jungen tun, für reaktionär. Sie unterstellt einerseits, dass alle Jungen gleich und andererseits, dass alle benachteiligt seien. Man muss jedoch sehr viel stärker differenzieren, das wissen wir doch auch aus dem Bereich der interkulturellen Jugendarbeit. Man kann nicht von den Jungen und den Mädchen sprechen. Dadurch stricken wir an alten Geschlechterbildern weiter.

JfE: Sollte es trotzdem mehr „Jungenarbeit“ geben?

Jürgen Budde: Auf jeden Fall!

JfE: Wie sieht die dann aus?

Jürgen Budde: Die unbefriedigende Antwort ist: Sie ist kontextabhängig. Natürlich gibt es die klassische außerschulische Seminararbeit in geschlechtshomogenen Gruppen, die viele Vorteile und einige Nachteile hat. Man kann aber auch Jungenarbeit im Rahmen der Jugendhilfe machen, man kann allein mit Jungen arbeiten, man kann in gemischten Gruppen arbeiten. Jungenarbeit ist meines Erachtens viel mehr eine Frage der Haltung als des Settings oder der Methode. Eine Haltung zwischen Empathie und Konfrontation, zwischen emphatischem Zugehen auf Jungen und der Bereitschaft sich mit ihnen zu streiten. Es geht darum, Männlichkeit zum Thema zu machen.

JfE: Was muss denn jemand mitbringen, um die „richtige Haltung“ gegenüber Jungen zu ja haben?

Jürgen Budde: Der oder diejenige muss eine grundlegende Empathie mitbringen, die Fähigkeit, sich in Jungen hineinzuversetzen. Außerdem braucht man ein hohes Maß an Unerschrockenheit, man muss sich Sprüchen aussetzen, Konfrontationen aushalten, die man vielleicht sonst nicht hat. Man braucht vor allem ein hohes Maß an kritischer Selbstreflexion, einen kritischen Blick auf sich und auf Bilder von Männlichkeit. Natürlich ist es gut, Methoden zu kennen, sie sind aber aus meiner Sicht keine notwendige Voraussetzung für eine gelungene Arbeit mit Jungen.

JfE: Um mich in jemanden hereinversetzen zu können, um Rollenstereotype erkennen zu können, muss ich etwas darüber wissen. Woher bekomme ich solches Wissen?

Jürgen Budde: Genderkompetenz fällt nicht vom Himmel. Man muss sie erlernen, man kann es aber auch. Zum Glück gewinnt der Diskurs über Jungensozialisation in Deutschland aktuell stark an Bedeutung. Es gibt hier inzwischen einen wissenschaftlichen Zweig, der sich mit Jungensozialisation beschäftigt. In den Skandinavischen Ländern ist dieser Bereich sehr stark, auch in anderen europäischen Ländern wird das Thema wichtiger. Auf der europäischen Ebene gibt es Bestrebungen, Forschungsnetzwerke zu schaffen. Hier gibt es viel Know-how.

Aber Genderkompetenz ist vor allem eine pädagogische Kompetenz, eine Frage der pädagogischen Haltung, die gekoppelt ist an die Bereitschaft, an sich selbst zu arbeiten. Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich und die Jugendlichen einfach fragen, was sie interessiert. Diese können selbst sehr gut Auskunft darüber geben, was Jungen ausmacht, welche Unterschiede es gibt, was sie interessiert und welche Themen für sie relevant sind. Man kann ja ohnehin nicht so tun, als wenn es die Genderfrage nicht gäbe. So wie man im internationalen Austausch nicht so tun kann, als wenn es keine unterschiedlichen kulturellen Hintergründe gäbe. Die Frage ist situationsbezogen zu beantworten: Wann und wo wird das Thema Gender relevant und pädagogisch? Ich würde empfehlen, einmal die Genderbrille aufzusetzen und internationale Begegnungen unter diesem Aspekt zu betrachten.

(Das Interview führte Helle Becker)

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Infos:

In vielen Bundesländern gibt es Landesarbeitsgemeinhaften für Jungenarbeit und Mädchenarbeit und Organisationen für geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe, die Informationen, Material und Fortbildungen anbieten.

Die Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille bietet eine Weiterbildungsreihe zum Erwerb von Gender-Kompetenz für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen an. Sie hat außerdem drei Publikationen zu dem Thema erstellt: www.hvhs-frille.de/

Informationen rund um Jungenarbeit finden sich auf der Seite: www.jungenarbeit.info

Das trägerübergreifende Projekt GeQuaB - "Gender Qualifizierung in der Bildungsarbeit“  legt den Schwerpunkt auf geschlechtergerechter Programmqualität von außerschulischen Bildungsangeboten. Nach der modellhaften Erprobung der Fortbildungsreihe wird dieses Qualifikationsangebot zur geschlechtergerechten Bildungsarbeit in ein Regelangebot übergeführt werden: www.gender-qualifizierung.de

Die Seite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit Infos: www.gender-mainstreaming.net

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