01.08.2023
Freiwilligendienst: Fünf Jahre Lebenserfahrung in zehn Monaten
Rasmus wollte nach seinem Abitur etwas Neues sehen und sich gleichzeitig gesellschaftlich engagieren. Er hörte auf einer Infoveranstaltung vom Europäischen Solidaritätskorps (ESK). Die "leuchtenden Augen" der ehemaligen Teilnehmenden bestärkten ihn in seinem Plan, einen Freiwilligendienst zu machen. Und so ging Rasmus im September 2022 mit dem ESK nach Ungarn. Im Interview gibt er Einblicke in seine Erfahrung als Freiwilliger.
Rasmus‘ Reise startete mit einer 24-stündigen Zugfahrt von Osnabrück in das fast 1.500 km entfernte Pécs. In der fünftgrößten Stadt Ungarns war er zehn Monate lang als Freiwilliger tätig. Im Juli 2023 kam er zurück, nachhaltig von seiner Erfahrung geprägt und mit einem Koffer voller Erinnerungen.
JUGEND für Europa: Rasmus, was hat dich dazu motiviert, einen Freiwilligendienst zu absolvieren?
Rasmus: Ich war mir nicht sicher, was ich nach dem Abitur genau machen wollte. Ich wollte gerne aus meiner Bubble rauskommen, dabei etwas sehen und Gutes tun. Ein Lehrer hat mich auf eine Infoveranstaltung der Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD) aufmerksam gemacht – die später meine Entsendeorganisation geworden sind – und ich war von den leuchtenden Augen der ehemaligen Freiwilligen, die ihre eigenen Erfahrungen geschildert haben, sofort angetan.
Und wie kam es zu dem Projekt in Ungarn?
Zu dem Zeitpunkt war Corona noch nicht vorbei, so dass es mir sicherer erschien in Europa zu bleiben. Ich wollte außerdem gerne in ein Land, von dem ich noch nicht so oft gehört hatte. Nicht zuletzt hatte ich als Gruppenleiter in meiner Kirchengemeinde bereits mit Kindern gearbeitet und wusste, dass mir die Arbeit mit ihnen Spaß macht. Die IJGD haben 20 Partnerprojekte, und da bin ich fündig geworden. So habe ich mich für das Projekt in Pécs beworben und bin froh, dass es direkt geklappt hat und es auch keine Sprachvoraussetzungen gab.
Was hast du im deinem Einsatzprojekt gemacht?
Ich habe vormittags in einem zweisprachigen (Deutsch und Ungarisch) Kindergarten gearbeitet. Ich habe mit den Kindern gespielt, das Essen ausgeteilt oder beim Umziehen geholfen. Die Kinder haben tatsächlich nicht viel Deutsch gesprochen oder verstanden, und da ich am Anfang kein Ungarisch konnte, war das für sie ein Ansporn Deutsch zu lernen.
Nachmittags habe ich in einer Betreuung für Kinder und Jugendliche mit geringeren Chancen gearbeitet. Ich habe da unter anderem Nachhilfeunterricht in Mathe sowie in Sprachen gegeben und mit den Kindern gespielt bzw. Sport gemacht.
Ich glaube, es ist wichtig, früh im Leben Kontakt zu Menschen aus anderen Ländern und Kulturen zu haben. Es weitet den Horizont. Die europäischen Freiwilligen, die nach Pécs kommen, tragen dazu bei.
Im Kindergarten war ich der einzige männliche Betreuer. Ich denke, es war für die Kinder gut, eine männliche Kontaktperson zu haben.
In der Nachmittagsbetreuung habe ich sehen können, wie Jugendliche selbstbewusster und ihre Sprachfähigkeiten besser wurden. Viele waren zu Beginn sehr in sich gekehrt und haben immer zum Boden geschaut. Sobald sie sich unterstützt und sicherer fühlten, konnte man es an der Körperhaltung sehen.
Es war deine erste längere Erfahrung im Ausland. Was hast du dabei über dich gelernt? Was nimmst du für deine Zukunft mit?
Ich habe mich selbst in erster Linie besser kennengelernt. Ich weiß nun besser, was mir im Leben wichtig ist.
Der Anfang war für mich schwierig: Ich habe die ersten drei Monate alleine gewohnt, bis ein Platz in einer WG frei wurde. Da wurde mir klar: Ich bin ein geselliger Mensch, und das Alleinsein ist nichts für mich.
Durch die Arbeit mit Kindern mit ADHS und Lernschwierigkeiten habe ich meine Geduld und meine Kreativität gestärkt.
Und ich habe gelernt, dass man sich auch ohne gemeinsame Sprache verständigen kann. Das führt auch zu lustigen Momenten und Erinnerungen. Ich habe zwar ein wenig Ungarisch in einem Sprachkurs an der Uni gelernt, aber mein Wortschatz war begrenzt. Auf Reisen musste ich nach dem Weg zu einem See fragen und konnte mit meinen wenigen Worten nur diesen Satz formulieren: "Wo ist denn das große Wasser?" Ich wurde aber verstanden und fand den Weg.
Welches Bild von Europa hast du nach deinem Freiwilligendienst?
Die europäischen Länder – ich war an 22 Orten in Ungarn und zweimal in Kroatien – sind viel ähnlicher als man es sich vorstellt. Wir haben mehr gemeinsam als uns trennt.
Ich habe mich aber auch sehr privilegiert gefühlt. Die Inflation ist in Ungarn sehr hoch; die Preise sind jedoch, wenn man aus Deutschland kommt, vergleichbar. Der Unterschied für die örtliche Bevölkerung ist, dass sie deutlich weniger verdient. So verdienen Lehrer knapp 1.000 Euro und müssen einer Nebenbeschäftigung nachgehen. Es war ein komisches Gefühl und lädt dazu ein, dankbar für die eigene Situation zu sein.
Was würdest du zum Schluss anderen jungen Menschen, die ebenfalls einen Freiwilligendienst absolvieren möchten, mit auf dem Weg geben?
Traut euch! Die Barrieren sind nicht so groß, wie ihr denkt, und ihr werdet immer Unterstützung haben – von eurer Entsende- und eurer Aufnahmeorganisation. Es wird nicht immer alles rosig sein, und es wird mit ziemlicher Sicherheit nicht so verlaufen, wie ihr es euch vorgestellt habt: Es kann sogar besser sein. Ihr habt nichts zu verlieren! Das Jahr hat mich persönlich so viel weitergebracht – ich bin gefühlt um fünf Jahre älter geworden.
Nicht zuletzt rate ich euch im Winter auf eure Gesundheit zu achten. Im Kindergarten sind Kinder ständig krank, und man steckt sich selbst immer wieder an. Da habe ich gelernt, dass man sich krankmelden soll, um dann wieder gute Arbeit leisten zu können.
Vielen herzlichen Dank für deine Zeit, Rasmus!
(JUGEND für Europa)
Rasmus ist 20 Jahre alt und kommt aus Osnabrück. Seinen Freiwilligendienst leistete er von September 2022 bis Juni 2023 in Pécs, Ungarn.