26.09.2022

comeback 2022: "Wir waren die bunten Hunde“

Egal ob ein paar Wochen oder einige Monate im europäischen Ausland: Ein Freiwilligendienst verändert den eigenen Blick auf Europa und manchmal auch alle schon geschmiedeten Pläne. Davon erzählt haben die beiden ESK-Freiwilligen Johanna Hürtgen (29) und Niclas Stackebrandt (21) JUGEND für Europa beim comeback 2022.

Johanna Hürtgen (29)

Johanna sitzt auf einer MauerArbeitete ein halbes Jahr in einer spanischen Kinderkrebsstiftung auf der Insel Gran Canaria – und blieb

Das Masterzeugnis war schon da, die ersten Bewerbungen abgeschickt und Termine für Vorstellungsgespräche trudelten ein, als Johanna Hürtgen aus Trier eine Mail aus Gran Canaria bekam: Die Kinderkrebsstiftung „Pequeño Valiente" wollte sie kennenlernen. Die 29-Jährige sagte zu, führte ein Skype-Gespräch auf Spanisch und fand sich vier Wochen später auf den Kanaren wieder.

„So schnell kann es manchmal gehen“, sagt Johanna rückblickend zu ihren ersten Kontakten mit der Kanaren-Insel, von der sie bis dato nur in Urlaubsberichten gehört hatte. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass sich ein Kreis schließt: Nach einem Auslandsaufenthalt in England nach dem Abi und einem Auslandsemester auf Mallorca sollte nun zum dritten Mal eine Insel ihr neuer Wohnort werden. „Irgendwie ziehe ich die magisch an“, sagt Johanna und lacht.

Von Juni bis Dezember 2021 war sie die erste ESK-Freiwillige der Kinderkrebsstiftung in der Insel-Hauptstadt Las Palmas. Ohne Spanischkenntnisse wäre das aber schwierig geworden, Englisch sprach fast keiner der Mitarbeiter. Die zusätzliche Herausforderung: Die Kanarier sprechen Dialekt. „Seit meinem Auslandssemester war schon einige Zeit vergangen, dementsprechend war es nicht einfach, vom ersten Tag an wieder alles auf Spanisch zu erledigen“, erinnert Johanna sich.

Schon in ihrem Bachelorstudium Tourismusmanagement hatte sie angefangen Spanisch zu lernen, ein betriebswirtschaftlicher Master folgte. In dem 15-köpfigen Stiftungs-Team aus Sozialarbeitern, Sport- und Physiotherapeuten, Logopäden und Psychologen konnte sie diese Kenntnisse gut einbringen – beim Texte verfassen auf Englisch, beim Bespielen der Social Media-Kanäle und beim Anträge stellen für Fördermittel.

Kanarische Wohngemeinschaft

Durch ihre Arbeitskollegen und das Leben in einer WG mit drei Kanarierinnen bekam sie schnell Kontakt zu den Einheimischen: „Weil am Anfang alles so schnell gehen musste, habe ich mich kaum darüber informiert, was ich hier machen kann. Das kam erst als ich hier war und ich zum Beispiel zu Treffen der digitalen Nomaden gegangen bin“, erzählt Johanna. Die entschleunigte, entspanntere Lebensweise gefiel ihr: „Die Leute hier nehmen sich immer Zeit für ein paar persönliche Worte und sie arbeiten gern im Kollektiv“, sagt sie. Und sie begann in der Tanzschule Salsa und Bachata zu lernen: „Ich wollte das schon immer lernen, dachte aber, ich habe nicht den Rhythmus im Blut wie die Spanier. Dann wurde es ein toller Ausgleich zur Arbeit und ich habe darüber viele Leute kennengelernt“, sagt sie.

Schon in ihrer Heimat hatte sie ehrenamtlich mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, Ferienfreizeiten mitorganisiert. Anfangs hatte sie allerdings Bedenken, ob sie mit krebskranken Kindern und deren Familien arbeiten könne. „Meine Koordinatorin hat mir aber Mut gemacht und gesagt, dass ich mich im Kontakt mit den Kindern einfach wie immer verhalten soll“, berichtet Johanna. „Letztlich sind es Kinder wie alle anderen. Ich war überrascht, wie lebensfroh die Kinder sind und wie sie sich über kleine Dinge freuen – das war sehr schön zu sehen.“ Nah gegangen sind ihr die Besuche in der Kinderonkologie mit den sichtbaren Auswirkungen der Chemotherapie und der Kontakt mit den Angehörigen trotzdem.

Ihr Dienst gliederte sich auf in Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Krankenhauses. Immer dabei, von morgens bis abends: Die FFP2-Maske. „Als ich kam, galt sogar noch eine Maskenpflicht auf den Straßen“, erinnert sie sich. Anfangs gab es wegen der Pandemielage noch keine Aktivitäten in der Kinderonkologie der Klinik, im Herbst ging es dann zwei Mal wöchentlich auf die Station. Mit einer zweiten lokalen Freiwilligen wurde gespielt, gebastelt oder es ging an die Luft: „Ich konnte viele eigene Ideen einbringen. Im Winter haben wir zum Beispiel zusammen einen Adventskalender gebastelt.“

Dazu kamen Aktivitäten außerhalb des Krankenhauses, etwa Sportprojekte, bei denen sie in der Vorbereitung, Organisation und Durchführung unterstützte. Diese führten an den Strand, wo Fußball gespielt, geschwommen oder gesurft wurde. Auch ging es zum Klettern, Reiten und Segeln, ins Museum oder Aquarium. „Ein anderer Teil meiner Arbeit waren Maßnahmen zur Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema und die Arbeit der Stiftung“, berichtet sie. Das führte sie auf Messen, Solidaritätsmärkte, an Schulen und die Universität.

Gehen oder bleiben?

Dann im Dezember die Überraschung: Kurz vor Ende ihres Dienstes bot ihr die Stiftung einen befristeten Vertrag bis zum Sommer an: „Ich hatte mich eigentlich schon drauf eingestellt, dass ich am 21. Dezember wieder nach Hause gehe. Das wäre auch ein guter Abschluss gewesen“, erinnert sie sich. Doch sie ließ ihr Bauchgefühl entscheiden und sagte kurzerhand zu, ihre Koordinatorin, die in den Mutterschutz ging, ein halbes Jahr im Bereich soziale Projekte und Marketing zu vertreten. Auch die neuen ESK-Freiwilligen konnte sie so mit aussuchen.

„Es war schon immer eine Leidenschaft von mir, Leute aus anderen Kulturen kennenzulernen und Sprachen zu lernen, aber die Zeit hier war eine ganz neue Erfahrung“, sagt Johanna. Die Menschen auf Gran Canaria identifizierten sich zwar als Spanier, stellten aber immer nach vorn, dass sie Kanarier sind. Auch in Gesprächen über Europa sei ihr aufgefallen, dass die geographisch abgelegene Position der Inseln eine Rolle spiele: „Es war oft die Rede davon, was ‚die Europäer‘ machen. Als ich gefragt habe, ob sie sich nicht als Teil der EU begreifen, hieß es schon, dass sie auch dazu gehören. Aber ich hatte trotzdem den Eindruck, dass sie sich nicht unbedingt als Teil dessen begreifen.“

Nie hätte sie gedacht, dass sie über ein Jahr auf der Insel bleibt: „Weil ich mich in Land und Leute verliebt habe, bin ich jetzt noch immer hier, engagiere mich in der Stiftung und versuche herauszufinden, wie es für mich beruflich weitergeht“, sagt Johanna. Ob sie in Spanien einen Job findet, zurück nach Deutschland geht, remote aus Gran Canaria arbeitet oder noch eine neue Insel auf sie wartet – das werden die kommenden Monate zeigen.

Niclas Stackebrandt (21)

Niklas liest Zeitung vor einem CaféProduzierte bei einem Workcamp in den italienischen Abruzzen einen Kurzfilm zum Thema Menschenrechte

In den Semesterferien etwas Sinnvolles machen – das war die Motivation von Niclas Stackebrandt für einen Kurzzeit-Freiwilligendienst. Der 21-Jährige aus Brandenburg studiert Politikwissenschaften in Leipzig und hatte an der Uni angefangen, Italienisch zu lernen. Warum also nicht in der Semesterpause nach Italien und die Sprachkenntnisse erweitern?

Aus dieser Idee wurde ein Workcamp in einem Bergdorf in den Abruzzen, knapp 60 Kilometer von Rom entfernt – und ein intensiver Sommer: An das Workcamp im August schloss Stackebrandt eine Interrail-Tour durch Europa an, bei der er seine neuen Freunde besuchte. Wir erreichen ihn im Zug, auf dem Weg von Bratislava nach Wien.

Per Zufall hatte er in der Organisation, in der er vor zwei Jahren ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht hatte, vom Kurzzeitdienst im Europäischen Solidaritätskorps mitbekommen. Anfang des Jahres suchte er nach Angeboten in Südeuropa, vor allem in Südfrankreich und Italien, und landete im 5.000-Einwohner-Ort Carsoli in einem Projekt, bei dem unter professioneller Anleitung ein Kurzfilm über Menschenrechte produziert wurde. „Die meisten Workcamps waren Renovierungs- und Restaurierungsprojekte und dieses Projekt fiel mir ins Auge, weil es sich inhaltlich abgehoben hat“, erzählt er.

Mitte August ging es los

In Carsoli wohnte die zwölfköpfige Gruppe junger Menschen aus Italien, Frankreich, Belgien, Spanien, Österreich, der Türkei und der Slowakei im Gemeindezentrum, das auch als Bibliothek, Kindergarten und Begegnungsort für Jugendliche fungiert. „Unser Ziel war es, einen Kurzfilm über einen der Menschenrechtsartikel zu drehen, also ein Skript zu schreiben und dann den Kurzfilm zu entwickeln und zu drehen“, berichtet er. Der Film soll nach der Fertigstellung an Festivals geschickt werden, sodass er überall in Europa gezeigt wird.

Die Gruppe suchte sich Menschenrechtsartikel 9 aus, wonach kein Mensch willkürlich festgenommen, inhaftiert oder des Landes verwiesen werden darf. „Wir haben ihn ausgesucht, weil er erstens filmerisch am besten zu realisieren war und, weil man nie weiß, wie stabil eine Demokratie ist – das hat die Geschichte gezeigt“, sagt Niclas. Die Botschaft des Films: Wenn man sich nicht dagegen ausspricht und das öffentlich thematisiert, kann man sich nicht sicher sein, dass es nicht auch hier passiert.

Angeleitet von einem Profi-Regisseur lernte die zwölfköpfige Gruppe per Crashkurs mit Ton und professioneller Kameratechnik umzugehen. Auch eine Schauspielerin aus Köln kam, um die Grundlagen vor der Kamera zu vermitteln, denn in drei Drehtagen musste der Film im Kasten sein. „Wir haben uns aufgeteilt, aber am Ende waren fast alle auch vor der Kamera, weil wir Statisten brauchten“, sagt Niclas. Das Dorf selbst war wenig eingebunden in den Plot, aber die Gruppe drehte in den Geschäften. Im Drehbuch sitzt ein Mann in einem Café, nacheinander verschwinden seine Freunde. Er ist der letzte, der übrig bleibt. „Die Inhaber des Cafés haben uns sogar Requisiten zur Verfügung gestellt“, erinnert er sich.

Zwischen dolce vita und Reserviertheit

Gleichzeitig seien sie in den zwei Wochen die bunten Hunde im Ort gewesen: Englisch konnte kaum jemand und Jugendliche gab es nur wenige. Der Tag habe meist entspannt mit einem Kaffee auf dem Marktplatz begonnen. Abends in der Bar habe es aber auch mal kritische Blicke und Reserviertheit gegeben: „Man hat gemerkt, dass man uns nicht so recht über den Weg traut. Der Großteil war aber interessiert. Wir wurden sogar mal zum Essen eingeladen“, berichtet Niclas.

Dass der Film nicht ganz fertig geworden sei, war das das Einzige, was etwas enttäuschend war. „Das war das erste Workcamp dort. Da kann es passieren, dass das Zeitmanagement nicht so gut ist“, sagt er. Ansonsten nimmt er einiges mit: „Ich habe einen YouTube-Kanal, auf dem ich Videos über Fußball mache. Das, was ich in Carsoli über Schneiden gelernt habe, hilft mir dabei natürlich weiter“, sagt er. Das Besondere sei für ihn aber der Austausch mit den jungen Leuten gewesen, die einem zwar relativ nah sind, aber doch anders ticken – und gleichzeitig sei man sich trotzdem ähnlich.

Auch gemeinsame Ausflüge an den freien Tagen, etwa in das eine Stunde entfernte Rom, gab es: „Das war spannend für mich als Politikwissenschaftler, wie uns die Italiener ihr Land gezeigt haben“, sagt Niclas. „Ich hätte zum Beispiel nicht gedacht, wie stark rechte Tendenzen in der Mitte der Gesellschaft sind oder, dass es Orte mit starkem Personenkult um Mussolini gibt“, berichtet er. In das Dorf würde er trotzdem gern nochmal zurückkehren: „Die Natur dort in den Bergen war unglaublich schön.“ Aber auch ein anderes Workcamp oder ein längerer Auslandsaufenthalt in Südeuropa nach dem Bachelor reizen ihn, wenn es sich mit dem Berufseinstieg verbinden lässt.

Erst einmal aber Interrail: „Ich hatte die Reiseroute schon lange vor dem Workcamp geplant. Dass ich jetzt so viele der Leute, die ich beim Workcamp kennengelernt habe, auf der Reise besuchen konnte und die Städte durch ihre Augen kennenlernen konnte, war purer Zufall“, freut er sich über das neue Netzwerk von Freunden in ganz Europa.

(Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa / Fotos: privat)