22.10.2021

"Nicht die Gebärdensprache selbst ist die Barriere, sondern ihr Fehlen"

Jaan-Raul Ojastu arbeitet im Tartu Youth Work Center mit hörenden und gehörlosen Jugendlichen. Der gehörlose Jugendarbeiter organisiert Aktivitäten für 11- bis 19-Jährige und versucht, junge Esten an die Möglichkeiten der EU-Jugendprogramme heranzuführen. Ein Gespräch über Hürden und Visionen.

JUGEND für Europa: Herr Ojastu, Sie sind Jugendarbeiter in Tartu und arbeiten mit gehörlosen und hörenden Jugendlichen. Was überrascht die meisten, wenn sie zum ersten Mal in Kontakt mit der Gebärdensprache kommen?

Jaan-Raul Ojastu: In meinen Kursen für estnische Gebärdensprache im Tartu Youth Work Center sind die meisten hörenden Jugendlichen immer erstaunt, dass sie schon einige Wörter in Gebärdensprache kennen und auch nutzen – ihnen das aber nie bewusst war. Worte wie „Baby“, „Auto“, „Essen“, „Trinken“ usw. können die meisten korrekt gebärden, ohne darüber nachzudenken.

Sie selbst sind auch gehörlos. Wollten Sie schon immer mit Jugendlichen arbeiten?

Ja, meine Muttersprache ist Gebärdensprache. Ich habe unterschiedliche Schulen besucht: Meine weiterführende Schule war in Tallinn, studiert habe ich für meinen Bachelor in Sonderpädagogik in Tartu – und dann habe ich die Stelle als Jugendarbeiter hier gefunden. Seit 2019 bin ich ehrenamtlich im Vorstand der Estonian Deaf Youth Organization engagiert.

Sie arbeiten im Tartu Youth Work Center. Welche Aufgaben haben Sie dort?

Ich organisiere meist Aktivitäten für unseren „Open Youth Room“ für Jugendliche zwischen 11 und 19 Jahren, die verschiedenste Hintergründe haben. Wenn ich mit hörenden Jugendlichen arbeite, behelfen wir uns für das Kommunizieren meist mit Schreiben – auf Papier oder dem Smartphone – oder eben mittels Gesten. Neben den Workshops in Gebärdensprache organisiere ich auch Kochkurse, den Frisbee-Sport „Disc Golf“ oder Online-Spiele auf einer spielebasierten Lernplattform. Auch gehört die Gestaltung von Diskussionen und Trainings für die gehörlosen Jugendlichen zu meinen Aufgaben. Die Idee ist, dadurch in Kontakt miteinander zu treten und zu ermutigen, eigene kleine Projekte anzustoßen und umzusetzen.

Hat das Tartu Youth Work Center einen Fokus auf gehörlose oder schwerhörige junge Menschen gelegt?

Ja, schon Jahre bevor ich dort anfing, wurde mit einem Innovations-Programm begonnen, um Gruppen mit besonderen Bedürfnissen zu erreichen. Wir haben drei verschiedene Jugendzentren, aber die gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen kommen meist in das Zentrum, in dem ich an dem Tag arbeite. Inzwischen haben einige Kolleginnen und Kollegen begonnen, die Grundlagen von Gebärdensprache zu lernen. Ich hoffe, dass das dazu führen wird, dass diese Jugendlichen auch kommen, wenn ich an einem Tag mal nicht da bin.

Hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Sie ein Angebot für gehörlose und schwerhörige Jugendliche haben, oder wie finden die Jugendlichen Sie?

Gute Frage! Eine Schwierigkeit ist, dass die Schule, die die gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen besuchen, nicht mit uns kooperieren will. Also musste ich andere Wege finden, in Kontakt zu treten: Das ging über einzelne Lehrkräfte oder Jugendliche, die sich offen zeigten oder auch über die Sozialen Medien. Manche hatte ich auch schon unter meinen Kontakten – langsam kommen immer mehr zu uns.

Ist die europäische Mobilität für die Jugendlichen, mit denen Sie arbeiten, ein Thema, oder ist das sehr weit weg?

Viele der Jugendlichen sind sehr interessiert daran. Aber ich denke, es ist in allererster Linie an uns Jugendarbeitern, junge Menschen an die Möglichkeiten der EU-Jugendprogramme heranzuführen. Gleichzeitig nehme ich auch wahr, dass viele gehörlose und schwerhörige Jugendliche nichts von den Möglichkeiten wissen und viele Informationen nicht – oder nicht ausreichend – in Gebärdensprache auf den relevanten Webseiten der europäischen Institutionen angeboten werden. Das ist natürlich eine Hürde, denn nicht die Gebärdensprache selbst ist die Barriere, sondern ihr Fehlen.

Es bräuchte also mehr Informationsangebote in den nationalen Gebärdensprachen oder zumindest in International Sign?

Ja, die Satzstruktur von International Sign ist sehr ähnlich zu der anderer Gebärdensprachen. International Sign ist zu etwa 70 Prozent angelehnt an die Amerikanische Gebärdensprache, die restlichen Prozent an europäische Gebärdensprachen. Den Sozialen Medien sei Dank, versteht die Mehrheit der gehörlosen oder schwerhörigen Jugendlichen International Sign, denn viele chatten dort mit anderen Gehörlosen oder posten Videos. Ich selbst habe International Sign mit 14 Jahren in einem European Union of the Deaf Youth-Camp in Finnland gelernt – das ist noch heute bei einigen estnischen Jugendlichen so.

Worin liegen, aus Ihrer Sicht, weitere Hürden beim Zugang zu den EU-Jugendprogrammen?

Es gibt diverse Gründe, warum Gehörlosen oder Schwerhörigen viele Möglichkeiten vorenthalten sind. Zum Beispiel gibt es Lehrpersonen oder Eltern, die denken, dass gehörlos oder schwerhörig zu sein, bedeutet, dass man im Leben nicht erfolgreich sein kann. Ich bin sicher, dass sich, wenn mehr Dialog mit gehörlosen und schwerhörigen Jugendlichen entstünde, die Sichtweise aller Beteiligten verändern würde.

War das Ihre Motivation am Online-Seminar Volunteering and solidarity activities with deaf and hard of hearing persons – exploring European project possibilities and building up networks“ teilzunehmen?

Ich habe davon über meine Arbeit erfahren und mich entschieden teilzunehmen, als ich gelesen habe, dass eine Verdolmetschung in International Sign garantiert wird. Auch davor habe ich schon an einigen internationalen Projekten teilgenommen, aber nur an solchen, an denen ausschließlich gehörlose oder schwerhörige Jugendliche teilgenommen haben. Das Seminar war eine neue Erfahrung für mich, weil hörende mit gehörlosen und schwerhörigen Teilnehmenden und Dolmetschern gemischt waren. Orte, an denen junge Menschen sich über ihre Erfahrungen in ihrem Heimatland austauschen können, bereichern immer den Horizont.

War das Multitasking im Online-Seminar mit Teilnehmenden aus acht Ländern auch zeitweise herausfordernd?

Ja, ich hatte vorher noch nie ein rein virtuelles Seminar besucht. Aber es war gut organisiert und strukturiert, und die International Sign-Dolmetschung hat in beide Richtungen wunderbar funktioniert.

Und was nehmen Sie für Ihre Arbeit im Tartu Youth Work Center mit?

Nach dem Seminar hat mich ein Teilnehmer aus Italien kontaktiert, für eine Kooperation in einem internationalen Projekt – eine Art Youth Day am 12. August 2022 für gehörlose und schwerhörige Jugendliche aus verschiedenen Ländern. Auch zwei weitere Teilnehmer aus Deutschland und der Schweiz wollen mitmachen. Persönlich habe ich die Vision für das Tartu Youth Work Center, dass wir es so aufstellen, dass gehörlose und schwerhörige Jugendliche nicht zögern, zu uns zu kommen – auch wenn ich mal nicht mehr dort arbeiten sollte.

(Das Interview führte Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa. / Foto: Jaan-Raul Ojastu)

Das Interview wurde im Rahmen der Online-Veranstaltung „Volunteering and solidarity activities with deaf and hard of hearing persons – exploring European project possibilities and building up networks“ geführt. In diesem Kontext ist auch folgendes Interview entstanden: https://www.jugendfuereuropa.de/news/11105