18.10.2021

Auf strategischer Partnersuche: Inklusion mainstreamen

Wie können sich europäische Projekte für taube und hörbeeinträchtigte Menschen öffnen? Was muss sich tun, damit Organisationen noch inklusiver in ihrer Arbeit werden? Mit dem Aufbau solcher Partnerschaften beschäftigten sich 20 hörende und gehörlose Menschen in einem Online-Seminar. Welche Ideen dort entstanden sind, berichtet Hanna Schüßler, Fachreferentin für Inklusion und Vielfalt bei JUGEND für Europa, im Interview.

Ein Fenster nach dem anderen poppt auf: Da ist Andre aus Italien neben der Zoom-Kachel von Gabi aus den Niederlanden, unter ihr winkt Sara aus der Schweiz. Auf den ersten Blick sieht der Zoom-Raum für das Seminar "Volunteering and solidarity activities with deaf and hard of hearing persons – exploring European project possibilities and building up networks" aus wie bei jedem anderen. Auf den zweiten fällt auf, dass es Untertitel gibt und zwei Fenster ganz oben angeheftet bleiben, auch wenn jemand anderes spricht oder den virtuellen Raum betritt. Diese beiden Fenster sind für einen Teil der 20 Teilnehmenden das Tor zu den Inhalten des Online-Seminars.

Zwei Dolmetscher gebärden das Gesprochene für die gehörlosen Teilnehmenden aus den Niederlanden, Deutschland, Frankreich, Estland, der Schweiz, Italien, Lettland, Ungarn und Island.

"Es ist fantastisch, dass so viele über ein halbes Jahr – von der Bewerbung bis zum Start heute – dran geblieben sind", eröffnet Hanna Schüßler, Fachreferentin für Inklusion und Vielfalt bei JUGEND für Europa, die viertägige Veranstaltung. Ein paar Herz- und Daumen-hoch-Emojis erscheinen – an coronabedingte Umplanungen sind die meisten gewöhnt. Aber wie funktioniert das Kommunizieren online mit so unterschiedlichen Teilnehmenden über vier Tage?

JUGEND für Europa: Teilnehmende von Island bis Italien, zwei verschiedene Gebärden- und eine Schriftverdolmetschung. Wie hat das Seminar in der Praxis geklappt?

Hanna Schüßler: Erstaunlich gut! Anfangs konnte ich mir nicht so richtig vorstellen wie es in der Realität aussehen wird, auch weil es technisch eine große Herausforderung war, aber die Atmosphäre war sehr gut. Nach der Mittagspause haben wir zum Beispiel den Raum schon etwas früher geöffnet, sodass – wie bei einem physischen Seminar – geplaudert werden konnte.

Gleichzeitig ist es aber auch herausfordernd, zum Beispiel für die Trainer*innen: Schon in einem Online-Seminar ohne Verdolmetschung ist es schwer, den Überblick über die Gruppe und die Stimmung zu behalten, aber wenn noch eine Reihe von Zoom-Kacheln mit Dolmetschenden im Vordergrund steht, ist das eine zusätzliche Herausforderung.

Durch die Pandemie gab es eine längere Entwicklungsphase für das Seminar. Warum habt ihr euch dann für eine Online-Version entschieden?

Die Entscheidung fiel vor zwei Monaten. Vor Ort in Berlin wäre es durch Abstandsregeln eine logistische Herausforderung geworden, und damals war die Corona-Lage auch noch unklar. Wir hatten schon in der Ausschreibung angekündigt, dass es eine Dolmetschung in International Sign Language gibt. Als die Anmeldungen kamen, haben wir gesehen, dass es in der ungarischen Gruppe auch die nationale Gebärdensprache braucht und diese noch mit aufgenommen.

Die Veranstaltung läuft als Partnership Building Activity innerhalb der Strategischen Partnerschaft für Inklusion (SPI), in der JUGEND für Europa engagiert ist. Ist das Partnerfinden eins der Hauptziele der Veranstaltung?

Ja, die Gruppe ist eine sehr gemischte: es sind einige Teilnehmende dabei, welche die europäischen Programme gar nicht kennen und potenzielle Partner finden wollen. Das sind in erster Linie Vertretende der Gehörlosen-Verbände und deren Jugendorganisationen. Es sind aber auch Organisationen dabei, zum Beispiel aus dem kulturellen Bereich oder der internationalen Jugendarbeit, die ihren inklusiven Anspruch ausbauen wollen und Partner aus der Zielgruppe finden möchten, um mehr gehörlose Jugendliche in ihre Freiwilligen- und Solidaritätsprojekte aufzunehmen.

Eines der Leitmotive im Europäischen Solidaritätskorps (ESK) ist, dass jeder junge Mensch die Möglichkeit haben soll, an den Programmen teilhaben zu können. Wie ist das Seminar im Kontext der Umsetzung der Inklusionsstrategie zu verorten?

Wir arbeiten sehr stark daran, dem Anspruch nachzukommen, umfassend inklusiv zu werden. Dafür muss man wissen, wo noch Barrieren sind, und wir versuchen, Schritt für Schritt, uns diese Expertise anzueignen. Die Fokussierung auf bestimmte Barrieren hat sich als erfolgversprechend gezeigt, um diese gezielt anzugehen.

Mit Blick auf die Strategische Partnerschaft für Inklusion sind wir in zwei thematischen Strängen engagiert: Der eine legt einen Fokus auf Menschen mit Behinderungen und der andere einen auf Menschen in NEET-Situationen, also solche, die weder in Schule oder Ausbildung noch Arbeit sind.

Holt ihr euch neben Veranstaltungen wie dieser auch externe Expertise ein?

Ja, zum Beispiel arbeiten wir in der Beirats-AG "Inklusion und Vielfalt" mit Menschen, die aus bestimmten Feldern und von bestimmten Perspektiven her kommen und die mit uns Lebensumstände und Barrieren genauer betrachten. Grundsätzlich helfen die Perspektiven der Organisationen, die mit der Zielgruppe arbeiten, sehr, denn sie können oftmals nicht davon ausgehen, dass eine Veranstaltung wirklich barrierefrei ist und müssen immer wieder für ihre Rechte kämpfen.

Sind während der Veranstaltung Bedarfe deutlich geworden und erste Projektideen entstanden?

Es ging viel darum, Verständnis füreinander und die Bedarfe aufzubauen und Fragen rund um Zugänglichkeit und physische Barrieren zu erörtern. Dem Entwickeln von Projektideen haben wir einen Tag mit freien Zeit-Slots gewidmet, in denen sich die Teilnehmenden in selbst gewählten Gruppen austauschen konnten. Es gab zum Beispiel erste Ideen für einen Freiwilligendienst zu Audio-Lösungen für barrierefreie Filme, für ein Freiwilligenteam aus Menschen mit und ohne Behinderungen oder einen jährlichen Youth Day for Diversity.

Und was konntet ihr aus den Fragen und dem Feedback der Teilnehmenden für JUGEND für Europa mitnehmen, zum Beispiel was das Thema Hindernisse angeht?

Es war spannend zu sehen, dass trotz des Abfragens der Bedarfe in den Anmeldeformularen nicht unbedingt klar war, welche Art der sprachlichen Unterstützung eine Person genau benötigt. Man muss also mehr nachfragen. Auch müssen Standards immer einen Schritt weitergedacht werden. Dazu gehört auch, dass es nicht nur in den Arbeits-Settings eine Verdolmetschung braucht, sondern immer auch in informellen Programmteilen wie in Pausen oder am Abend.

Anstelle eines Projektbesuchs gab es einen Austausch mit Vertretenden von Organisationen, die Freiwilligendienste für gehörlose junge Menschen koordinieren und mit drei Freiwilligen, die einen solchen Dienst ableisten. Was hat sich da gezeigt?

Viele Organisationen sind bereits sehr engagiert und haben sich viel Wissen angeeignet. Es ging zum Beispiel um das Wohnen in gemischten Wohngemeinschaften und wie man dort die Kommunikation unterstützen kann. Da wird zum Teil darüber nachgedacht, Gebärdensprachkurse für alle anzubieten.

Insgesamt ist das Sprachenlernen ein großes Thema: Wenn etwa eine gehörlose Deutsche nach Italien geht, muss sie sich ja sowohl ein bisschen schriftlich auf Italienisch verständigen können als auch die italienische Gebärdensprache lernen – das ist natürlich mehr zu lernen als für einen hörenden Freiwilligen. Ein anderes Thema war Hörende in Gehörlosen-Organisationen zu bringen, um das gegenseitige Verständnis zu fördern und neue Kommunikationswege auszuloten. Auch diese müssen dann natürlich die Gebärdensprache lernen.

Das Europäische Solidaritätskorps hat das Ziel, allen jungen Menschen europäische Mobilitätserfahrungen zu ermöglichen. Wird das weiter eine Herausforderung bleiben?

Ja, das eine ist, überhaupt einen Zugang zu schaffen für solche Jugendlichen, die sich bisher nicht angesprochen gefühlt haben oder die verschlossene Türen vorgefunden haben. Ich denke da zum Beispiel an eine gehörlose junge Frau, die lange keine Entsendeorganisation für ihren Freiwilligendienst gefunden hat, die ihre Mobilität aktiv gefördert hätte.

Um hier Zugänge zu erleichtern, ist es sehr wünschenswert, wenn sich etwa zwei Gehörlosen-Verbände für eine Jugendbegegnung oder einen Freiwilligendienst finden. Mit Blick auf einen gesellschaftlichen inklusiven Anspruch wäre es natürlich schön, noch einen Schritt weiterzugehen und Netzwerke zu schaffen, um Inklusion zu "mainstreamen" – sodass auch Projekte entstehen, die etwa hörende und gehörlose junge Menschen zusammenbringen.

(Das Interview führte Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa.)

Das Interview wurde im Rahmen der Online-Veranstaltung „Volunteering and solidarity activities with deaf and hard of hearing persons – exploring European project possibilities and building up networks“ geführt. In diesem Kontext ist auch folgendes Interview entstanden: https://www.jugendfuereuropa.de/news/11108