25.02.2012

Beispiel Liverpool: Was tun, wenn Jugendliche entscheiden?

Steve Radford berichtete von seinen Erfahrungen aus der Liverpooler Stadtratsarbeit auf dem Fachforum des BMFSFJ "Teilhabe junger Menschen vor Ort". Jochen Butt-Pośnik von JUGEND für Europa - Transferstelle für jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa moderierte das Gespräch.

Der “Education and Inspections Act” (2006) gab englischen Jugendlichen das Recht, über eigene Budgetlinien für Jugendaktivitäten zu entscheiden und bei der Auswahl und Bewertung der Jugendhilfeangebote ein gewichtiges Wort mitzusprechen. In der Praxis wollte eine Gruppe aktiver Jugendlicher im Wahlkreis des 54-jährigen damit ihre eigene Fahrtkosten für eine Fahrt nach London bzw. sogar für Fernreisen ausgeben.

Nach dem Wortlaut des Gesetzes hatte Steve Radford kein Recht, diese Pläne der Jugendlichen zurückzuweisen. Er tat es dennoch. Mit dem Hinweis, dass er mit diesem Geld eine Wirkung für 100 Jugendliche statt für eine kleine Gruppe erzielen könnte, ging er in einen Dialog mit den Jugendlichen. Dieser führte schließlich dazu, dass die Jugendlichen trotzdem fuhren – aber eine Eigenbeteiligung organisierten.

Seit 30 Jahren sitzt Radford im Liverpooler Stadtrat. Obwohl dieser derzeit von einer fast ¾-Labour-Mehrheit dominiert wird, hat er den Vorsitz im Ausschuss für Kinder- und Jugendzentren inne und ist als Vertreter der kleinen Liberal Party (nicht zu verwechseln mit den Liberal Democrats, die mit den Konservativen die Regierung des Vereinten Königreichs stellen) ein „political animal“.

Selbst als 14-Jähriger zur Politik gekommen, ist Herr Radford einer der eher seltenen politischen Entscheidungsträger, der die Einbeziehung (nicht nur) Jugendlicher in kommunalpolitische Strukturen ernst nimmt: er bietet „Shadowing“ an, sprich, er lässt seine Arbeit im Stadt- und Bezirksrat von Jugendlichen begleiten. Dabei geht es ihm auch um den Abbau symbolischer Distanz: „Normalerweise sitzen die Besucher bei uns auf einer Tribüne und hören zu, was wir Lokalpolitiker unten am Tisch machen. Ich hole die Jugendlichen an den Tisch, sie haben Rederecht, und wir behandeln sie, als wären sie schon Ratsmitglieder.“

Zeit, Fragen zu stellen

Einmal im Jahr veranstaltet der Liverpool City Council eine Art Jugendforum, die „Question Time at Town Hall“. Bei diesem Beteiligungsforum kommen über hundert Jugendliche aus den verschiedenen Jugendparlamenten und Jugendzentren der Stadt zusammen und löchern Lokalpolitiker mit ihren Anliegen und Fragen. Dabei sind neben konkreten Anliegen im Bereich von Jugendeinrichtungen, Transport, Gewalt und dem Verhältnis zwischen Polizei und Jugendlichen insbesondere Haushaltsfragen immer wieder Thema.

Liverpool sieht sich, wie fast alle öffentlichen Haushalte im Vereinten Königreich, drastischen Kürzungen gegenüber: Für das laufende Jahr wurde das Jugendbudget um 28% zusammengestrichen; Schließungen von Einrichtungen und Strukturen wie dem „Integral Youth & Play Service“ sind die Folge.

Im gleichen Atemzug räumt „Positive for Youth“, der neue ressortübergreifende jugendpolitische Ansatz der Londoner Zentralregierung den Kommunen mehr Freiheiten ein, ihre Dienstleistungen im Jugendbereich auszuschreiben und an geeignete Träger aus der Privatwirtschaft, Jugend- oder Freiwilligenorganisationen zu vergeben. Dabei werden Kommunen verpflichtet, Jugendliche an der Auswahl und Kontrolle der Dienstleister zu beteiligen.

Vertrauen in Jugendliche

Steve Radford sieht mit Sorge, dass selbst wenige seiner (erwachsenen) Kolleginnen und Kollegen aus der Lokalpolitik die Kompetenz besitzen, komplexe Ausschreibungsverfahren durchführen und die Qualität der Leistungsanbieter einschätzen zu können. Dazu kommen Fälle von Trägern aus dem religiös-orthodoxen Bereich, die beispielsweise homophobische oder anti-egalitäre Positionen vertreten und diese in der Jugendarbeit der von ihnen geführten Einrichtungen einfließen lassen.

Radford sieht aber auch Chancen in der derzeitigen Situation: So haben sich kurz vor seiner Abreise zum Fachforum zwei Jugendliche entschlossen, den Vorstand einer Jugendeinrichtung zu stellen, die für viele Jahre von einem seiner Meinung nach unfähigen Leiter geführt wurde. Sein Credo lautet in diesem Zusammenhang: „Wir müssen die jungen Leute „up-skillen“, ihnen durch frühe Einbeziehung, Shadowing, konkrete Übernahme von Verantwortung und Training die Möglichkeit geben, den entstandenen Freiraum zu nutzen“.

Diese Lernnotwendigkeit räumt Radford auch bei den Erwachsenen und Entscheidungsträgern ein: Hier fehlt es zu häufig an einer Haltung, die Jugendliche aufsucht, die ihnen in einer verständlichen Sprache und Form Beteiligungsmöglichkeiten bietet und sie so ernst nimmt, dass auch Konflikt nicht gescheut werden. Auch Erwachsene benötigen oftmals ein „up-skill“, um zu Partizipationsermöglichern werden. Zu dieser Haltung gehört Vertrauen in Jugendliche.

Gefragt, ob er nach den gewalttätigen Ausschreitungen im August 2011, in deren Verlauf auch in Liverpool Autos brannten und Geschäfte geplündert wurden, weiterhin ein positives Bild von „der Jugend“ habe, antwortete Radford differenziert: „Die meisten Festgenommenen bei den Riots in Liverpool waren über 21-jährige mit krimineller Vorgeschichte. Es ist fatal, wie daraus die Medien einen Jugendaufstand herbeischrieben.“

Entgegen der in Deutschland oft vertretenen Ansicht, verbindliche gesetzliche Grundlagen könnten die Partizipationsbedingungen Jugendlicher strukturell verbessern, hält der Liberale Radford wenig von der Wirkung zentralstaatlicher Vorgaben. Diese seien ungeeignet, die oben beschriebene partizipationsfördernde Haltung bei Erwachsenen und die Beteiligungskompetenzen bei Jugendlichen herzustellen.

Das auf dem Fachforum am 23.02.2012 im Plauderton gehaltene europäische Peer-Learning soll die Entwicklung der Eigenständigen Jugendpolitik in Deutschland noch in vielfältigen Formen mit Inspiration, Vergleichsmöglichkeiten und Lernmomenten versorgen.

In Gestalt eines „Multilateralen Kooperationsprojekts“ organisiert JUGEND für Europa - Transferstelle für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa für das BMFSFJ einen Peer-Learning-Prozess mit Belgien-FL, der Tschechischen Republik, Frankreich, den Niederlanden und Schweden. Auch auf den nächsten Fachforen wird wieder mit Einflüssen aus europäischen Partnerländern zu rechnen sein.

(Quelle: JUGEND für Europa - www.jugendpolitikineuropa.de)

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