26.10.2012

Strukturierter Dialog: Mit dem Rad zu den jungen Deutschen

Gesucht: Lebenswelten und Ansichten junger Menschen
Gefragt: Ihre Hoffnungen und Ängste, Erwartungen und Erfahrungen

Die 17-jährige Johanna streicht sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht und schaut einen Moment etwas ratlos auf den Fragebogen vor sich. "Welche drei Themen haben den größten Einfluss auf dich und deine Lebenssituation?" steht da. Anzukreuzende Antwortmöglichkeiten gibt es viele, von "Leistungsdruck" und "Arbeitslosigkeit" über "Europa", "Kriminalität" oder "Rassismus" bis hin zu "Familie" oder "Fernbeziehung". Schließlich setzt sie ihre Kreuzchen und blickt dann erwartungsvoll zu Simon.

Unterwegs von Kempten bis Rostock

Simon Schnetzer ist derjenige, der dahinter steckt: Hinter dem Fragebogen, der Studie junge Deutsche und der Idee, auf einer Fahrradtour quer durch Deutschland zu erfahren, wie junge Menschen in unserem Land leben, was sie beschäftigt, was sie ängstigt und wie sie sich die Welt von Morgen vorstellen. Diese Idee hat der gebürtige Allgäuer nun bereits zum zweiten Mal in die Tat umgesetzt – dieses Jahr mithilfe der Servicestelle Jugendbeteiligung sowie der finanziellen Unterstützung des EU-Programms JUGEND IN AKTION.

Rund sechs Wochen lang fährt er gemeinsam mit Diana Rychlik auf ihren Fahrrädern durch sämtliche Bundesländer. Sie machen Halt in Städten und auf dem Land, übernachten bei Couchsurfing-Gastgebern und stellen den jungen Menschen, die sie unterwegs treffen, Fragen – ganz viele Fragen. Das Ziel dahinter: Die Erforschung der Lebenswelten 14- bis 34-Jähriger in  Deutschland, die Bündelung dieser Ergebnisse in einer Studie und die "Anstiftung" Jugendlicher, selbst in ihrem Umfeld aktiv zu werden.

Simon, warum machst du das alles, was ist die Absicht hinter der Studie und deiner Tour?

Portrait SimonWir wollen zeigen, was hinter den Zahlen steckt. Wir wollen Entscheidungsträgern in der Gesellschaft vor Augen führen, was nach Ansicht junger Deutscher – und damit sind alle gemeint, die in Deutschland leben! - falsch läuft. Es geht auch darum, Politiker und Jugendliche in einen Dialog miteinander zu bringen und den jungen Leuten zu zeigen: Hey, ihr könnt etwas bewegen!

Das Gefühl des empowerment ist uns also ganz wichtig, die Erkenntnis, dass man als junger Mensch etwas bewegen kann. Wir zeigen, wie das gehen kann – zum Beispiel indem wir junge Leute selbst zu Interviewern machen, die dann in ihrer Stadt Gleichaltrige nach deren Lebenssituationen und Ansichten befragen  – so wie Johanna. Am Ende werden die Ergebnisse dann zusammengeführt und Politikern vorgestellt.

Besteht nicht die Gefahr, dass Politiker das zwar lächelnd honorieren, letzten Endes aber aufgrund mangelnder Repräsentativität diese Ergebnisse nicht ganz ernst nehmen?

Nein, das glaube ich nicht. Vollkommen repräsentativ ist keine Studie, darum geht es uns auch nicht. Aber wir decken ein breites Feld an Meinungen junger Leute ab, und zwar in räumlicher Hinsicht als auch angesichts der Altersspanne unserer Teilnehmer.

Unser großer Pluspunkt ist dabei, dass es nicht nur Fragen zum Ankreuzen sind, sondern dass alle Interviewer nachhaken und von den Befragten wissen wollen: "Erklär mir doch mal, wieso du das angekreuzt hast. Wie stellst du dir das vor, bessere Bildung? Und inwiefern ist Europa wichtig für dich?" So entstehen Geschichten hinter den Zahlen. Plötzlich wird’s konkret. Uns geht es darum, Statistiken zum Leben zu erwecken. Und ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Methode sehr wohl an die Politiker herankommen.             

Die Systemfrage – und was dahinter steckt

Simon ist unterwegs, weil er sagt: "Beteiligung funktioniert umso besser, je näher man an den Anliegen der Menschen dran ist". Deshalb steht die lokale und regionale Verankerung des Projekts auch im Vordergrund. Marc Ludwig ist der Kooperationspartner aus der Servicestelle Jugendbeteiligung. Er zieht im Hintergrund die Fäden, sucht Akteure wie Jugendzentren oder engagierte Vereine und versucht, diese einzubinden und zum Mitmachen zu bewegen.

"Peer-to-Peer-Work" lautet das große Schlagwort. Die Ursprungsmotivation dahinter ist für Simon die Frage: Müssen wir für das System funktionieren oder das System für uns? 'Das System' aber ist seiner Ansicht nach nicht mehr zeitgemäß. Politik und Institutionen müssen den heutigen Lebensumständen und Gewohnheiten junger Menschen angepasst werden, und wie das am besten geht, fragt er diejenigen, die es betrifft.

Befragung im WohnzimmerDie jungen Deutschen - und ja, die gibt es trotz demografischem Wandel auch noch! - sollen Antworten auf die Frage geben, was denn nicht so funktioniert, wie es sollte, und wie das geändert werden kann; eine Frage, an deren Antwort Politiker besonders vor den Bundestagswahlen interessiert sein sollten, wie Simon nicht ohne warnenden Unterton sagt. 

Und, was denken junge Menschen in Deutschland nun über die Zukunft, Simon?

Auf so eine Frage lasse ich mich jetzt noch nicht ein. Das Projekt läuft noch und wir haben es bisher nicht vollständig ausgewertet. Aber es gibt ein paar Zwischenergebnisse von den bisher über 1.000 Teilnehmern: Gefragt nach der anstehenden Bundestagswahl 2013 haben sich einige Topthemen herauskristallisiert, und zwar durch alle Altersgruppen hindurch. An erster Stelle steht soziale Gerechtigkeit, dann der Ausbau von Krippen und Kinderbetreuungsplätzen und als nächstes die Abschaffung der Studiengebühren sowie die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Ehen. 

Am Ende: Handlungsempfehlungen an die Politik

Simon erzählt nicht abstrakt, sondern von sehr persönlichen Begegnungen, die ihnen während der Fahrt widerfahren sind. Von der Hip-Hop-Gruppe in Dresden beispielsweise, die Simon besuchte und begeisterte. Plötzlich wurde diesen Jugendlichen klar, dass Politik nicht nur in Berlin oder Brüssel gemacht wird, sondern auch in ihrem Jugendzentrum vor Ort. Und am Ende sagten sie zu ihm: "Ihr seid echt gute Leute. Das war das erste Mal, dass jemand uns so ernst genommen hat."

Das Projekt, welches von einem engagierten Team unterstützt wird, wird durch die Aktion 5.1 von JUGEND IN AKTION gefördert, dem Strukturierten Dialog zwischen Jugendlichen und Verantwortlichen für Jugendpolitik.

Marc, wie muss der Dialog zwischen politisch Verantwortlichen und jungen Leuten denn konkret aussehen, damit er erfolgreich ist und die Jugendlichen das Gefühl haben, ihre Ideen werden tatsächlich ernst genommen und weiter getragen?

Portrait Marc LudwigNa ja, wir sind erst einmal neugierig auf das Netzwerktreffen zum Strukturierten Dialog, das am 29. und 30. November in Berlin stattfindet und auf dem wir uns mit anderen Jugendorganisationen austauschen werden. Ich bin gespannt, was wir da für Impulse mitnehmen werden.

Momentan ist es für uns noch etwas zu früh, um über den konkreten Austausch zwischen den Jugendlichen und Politikern zu sprechen. Das ganze Projekt besteht ja aus vier Phasen, die sich über acht Monate hinziehen. Die erste Phase war die Vorbereitung und die Kooperation mit Jugendclubs, Sportvereinen, Schulen und so weiter. Gerade sind wir in der zweiten Phase, in der Simon mit dem Fahrrad unterwegs ist und Leute motiviert, ihrerseits andere junge Leute im Rahmen der Stadtstudien zu interviewen. Parallel dazu kann jeder zwischen 14 und 34 noch bis Ende Januar 2013 an unserer Online-Befragung teilnehmen.

In der dritten Phase werden die Daten ausgewertet und fließen in die Erstellung der Studie ein, und in der vierten Phase findet Ende März ein großes Symposium in Berlin statt, zu dem die "Macher" der Stadtstudien kommen und sich vernetzen und zu dem dann Handlungsempfehlungen an die Politik gegeben werden. Dann werden wir sehen, wie der Dialog läuft und was daraus entsteht...    

(Text: Elisa Rheinheimer, Fotos: Projekt "Junge Deutsche")

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Weiterführende Informationen

Sie können das Projekt "Junge Deutsche" auf der Website und auf facebook verfolgen. Es wurde u.a. finanziert über das EU-Programm JUGEND IN AKTION.

Mehr Informationen über das "Netzwerktreffen zum Strukturierten Dialog" erhalten Sie hier...

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