27.04.2022

"Trainings in diesen Zeiten – wie spricht man eigentlich über den Krieg?"

Michael Kimmig (Foto:privat)Stell dir vor, du bist auf einem Freiwilligentraining und plötzlich ist Krieg. Und nicht nur das. Auch in deinem Kurs sind die Nationalitäten der Konfliktparteien vertreten. Wie geht man dann am besten vor? Und was bedeutet das für künftige Seminare? Fragen, die sich auch Michael Kimmig gestellt hat. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat ihn als interkulturellen Trainer und Coach vor neue Herausforderungen gestellt.

JfE: Michael, ihr wart gerade auf einem On-Arrival-Training mit Freiwilligen in Polen, als der Krieg ausbrach. Wie hast du den Tag erlebt?

Michael Kimmig: Ich erinnere mich natürlich genau. Unser fünftägiges Training hatte an einem Montag begonnen, Donnerstag brach der Krieg aus. Ich wachte morgens auf, schaute aufs Handy und dachte: ‚Nein, das kann doch jetzt nicht wahr sein.‘

Wir hatten in unserer Gruppe auch Teilnehmende aus Russland und der Ukraine, ebenso aus angrenzenden Ländern wie Armenien und Georgien. Und dann habe ich mich mit meinen beiden Kolleginnen Dagna Gmitrowicz und Maja Selan beraten, was wir jetzt machen wollen.

Und zu welcher Entscheidung seid ihr gekommen?

Uns war gleich klar: Business as usual geht nicht. Aber das perfekte Tool für solche Situationen gibt es auch nicht. Es ging also darum, das Thema ein Stück weit aufzumachen, den Teilnehmer*innen einen Raum zum Austausch zu geben, aber dann auch zu schauen, wie kommen wir wieder zu unseren Seminarinhalten zurück. Denn es hatte sich ja niemand für das Training angemeldet, um über den Krieg zu sprechen.

Wie seid ihr dann vorgegangen?

Es gibt in unserer Arbeit ja einen Grundsatz, der auch für andere Seminare gilt: Störungen haben Vorrang oder wie es so schön auf Englisch heißt: "disturbances or passionate involvement takes precedece". Das können irgendwelche Ablenkungen oder auch Konflikte in der Gruppe sein, in jedem Fall macht Weitermachen dann keinen Sinn, weil die Konzentration von den Inhalten weg geht und der Fokus wo anders liegt.

Ähnlich war das auch hier. Wir haben uns deshalb entschieden, erst mal eine halbe Stunde Kleingruppen zum Krieg einzubauen. Austausch zum Thema also. Und vor allem wollten wir wissen, was brauchen die Freiwilligen, um mit der Situation umzugehen und wer braucht Unterstützung von uns?

Und wie haben die Teilnehmenden reagiert?

Es gab schon auch einige, die sagten, wir wollen jetzt weiterarbeiten, aber natürlich nicht alle. Als Trainer*innen sorgen wir uns in solchen Situationen oft davor, dass man sich in so einer Situation verliert. Aber das ist nicht so. Jede und jeder Freiwillige braucht eben etwas anderes. Der eine zieht sich 24 Stunden am Tag die News rein, die andere will von alldem vielleicht gerade nichts wissen. Da ist so ein Programm dann auch gut. Man kann sich an etwas festhalten.

Und diese Art von Austausch hat auch positive Auswirkungen auf die Gruppe insgesamt. Man kann tiefergehen, der Bezug zueinander wird intensiver. Klar ist das aufwühlend, aber es lohnt sich sicherlich, weil wir am Ende doch immer feststellen: Es gibt mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Und was bei uns besonders schön war: Die russischen und ukrainischen Freiwilligen haben ganz bewusst in einer Gruppe zusammengearbeitet und sich gegenseitig gestützt.

Jetzt dauert der Krieg schon mehr als zwei Monate. Was bedeutet die aktuelle Weltlage für künftige Veranstaltungen? Soll man den Krieg immer wieder thematisieren oder kann sich das abnutzen?

Wichtig ist uns immer die Frage: Was macht das mit mir? Uns interessiert weniger die Faktenlage. Und auf der emotionalen Ebene gibt es durchaus immer wieder neue Herausforderungen zu bewältigen. Immer dann zum Beispiel, wenn neue erschreckende Taten oder Bilder bekannt werden. Ich denke da gerade an die vielen Menschen, die in Butscha in der Ukraine getötet wurden.

Je länger der Krieg dauert, desto öfter stecken wir das weg, und wir lagern den Stress, den das Ganze mit uns macht, irgendwo ab, aber er bleibt doch irgendwie unter der Haut, glaub ich, und wirkt weiter. Deshalb wäre mein Ratschlag: immer auf die emotionale Ebene schauen.

Du bist viele Jahre schon als Trainer unterwegs. Da verändern sich auch Veranstaltungen und Seminare in ihrer Machart. Worauf kommt es in diesen Zeiten besonders an?

Das Thema "Self-Care" oder "Well Being", was mit Corona wichtiger geworden ist, wird uns auch in Zukunft begleiten. Und das ist gut so. Für den Seminarablauf heißt das beispielsweise: weniger warming ups, dafür einfache Atemübungen, Workouts für mehr Entspannung.

Es geht immer um die Frage: Was braucht ihr, um aufzutanken? Welcher Ort verleiht dir Kraft? Man kann ins Ausland ja nicht einfach sein Klavier mitnehmen, wo man vielleicht sonst seine Ruhemomente findet. Resilienz ist also auch ein wichtiges Stichwort. Und was ich ebenfalls wichtig finde: Dinge erkennen, von denen man als Trainer*in die Finger lassen sollte. Bei Traumata von Teilnehmenden beispielsweise reicht Helfenwollen allein nicht aus. Ich muss einsehen, dass ich für so etwas nicht ausgebildet bin, kann aber Kontakt zu Menschen und Institutionen herstellen, die das professionell können.

Was ist dir ganz persönlich in diesen Zeiten wichtiger geworden?

(lacht) Ach, ich muss nur lang genug laufen, um wieder zu mir zu finden. Ich mache mehr Sport und bin mehr in der Natur. Und ich reguliere stark meinen Nachrichtenkonsum. Morgens aufzuwachen und gleich mal auf dem Handy zu schauen, wie es aktuell in der Ukraine aussieht, gehört nicht zu meinen ersten Tätigkeiten. Ich muss erst mal richtig wach sein. Gleiches gilt fürs Einschlafen. Wenn ich mir die Kriegsbilder als Letztes anschaue, würden die mich im Traum verfolgen, ich könnte dann nicht mehr regenerieren.

Gibt es sonst noch Tipps, die du anderen Trainerinnen und Trainern gerne mit auf den Weg geben würdest?

Vielleicht ein Grundsatz: Wenn du klar bist mit dir selbst, kannst du mit einem schwierigen Thema wie dem Krieg auch in eine Gruppe gehen. Bist du es nicht, schwimmst du und deine Emotionen springen hin und her. Der Tipp lautet also: self awareness, Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstheit zulassen können, auch Widersprüche ertragen. Für mich selbst heißt das: Mut zu haben und in eine Situation zu gehen, ohne deren Ausgang zu kennen.

Es geht also auch um vulnerability, Verletzbarkeit. Das sind alles keine konkreten Tools, sondern bedeutet viel Arbeit an sich selbst als Trainer*in und Person. Aber wie sage ich immer zu mir selbst: Ich bin ein Fan des lebenslangen Lernens, weil es mich daran erinnert, dass man nie alles weiß.

(Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa)

Lesetipp

Publikation: How to talk about warDagna Gmitrowicz, Marta Brzezińska-Hubert und Michael Kimmig haben eine Handreichung veröffentlicht, wie Trainer*innen mit der Kriegsthematik umgehen können: "How to talk about war. Facilitating learning in the face of crisis“.

Die englischsprachige Publikation steht unter http://toolbox.salto-youth.net/3219 als Download zur Verfügung.