10.03.2021

Freiwilligenteam im ESK: "Eine Bereicherung sind die unterschiedlichen Kontexte, aus denen die Teilnehmenden kommen“

Was in der Kleingartenkolonie in Leipzig-Engelsdorf mit Rodungs- und Malerarbeiten begann, ist zu einem lokalen Gemeinschaftsprojekt mit internationaler Dimension geworden: Jedes Jahr kommen junge Menschen mit und ohne Behinderungen aus ganz Europa zusammen, um den Gemeinschaftsgarten inklusiver zu gestalten. Was nach Projekten wie einer barrierefreien Kompost-Toilette noch geplant ist, erzählt Projektleiterin Jessica Reinsch von die VILLA gGmbH im Interview.

JUGEND für Europa: Frau Reinsch, die Geschichte der „Villa“ in Leipzig als soziokulturelles Zentrumreicht inzwischen über 30 Jahre zurück. Wie kam das Thema Inklusion zu den Themen der Villa dazu?  

Jessica Reinsch: Die Villa bietet einen bunten Blumenstrauß an Projekten in den Bereichen Jugend, Kultur und Soziales – für alle Altersgruppen und auch thematisch geht das in alle Richtungen. Neben dem Bereich „Europa und Engagement“ gibt es einen medienpädagogischen Bereich oder den Jugendkulturkeller, wo Musikprojekte stattfinden. Wir haben ein Willkommens-Team, das sich um Neuankömmlinge in Leipzig kümmert und Sprachangebote schafft und auch ein inklusives Tanzprojekt, das Tanzlabor. Die Initiative dafür, unsere Freiwilligentätigkeiten inklusiver zu gestalten, kam 2019 vom Leipziger Verein gemeinsam grün e.V., der eine inklusive Ausrichtung hat und einebrachliegende Kleingartenkolonie in Leipzig-Engelsdorf gepachtet hatte. So entstand dann Community Garden for Diversity“.

Also hat sich der Fokus vom Freiwilligenteam, wie es bis dato war, etwas verändert...

Ja genau, wir haben auch schon in den Jahren zuvor Klassen aus Oberschulen einbezogen, aber jetzt können wir mehr junge Menschen mit geringeren Chancen oder Behinderungen einbeziehen als zuvor. Mit der Förderschule Thonberg ist 2019 eine Schule mit dem Schwerpunkt auf geistiger Entwicklung als Projektpartner dazugekommen. Wir hatten den Kontakt über eine unserer Schulsozialarbeiterinnen und das hat natürlich super gepasst.

Aber Experten für inklusives Arbeiten waren Sie damals vermutlich noch nicht?

Nein, es ist eher so, dass wir uns das Thema immer mehr aneignen. Auch, wie man die Jugendlichen sinnstiftend einbeziehen kann, sodass echter Austausch möglich ist. Wir hatten zum Beispiel eine Teilnehmerin mit beeinträchtigtem Hörvermögen aus Ungarn. Sie konnte Gebärdensprache und auch Lippenlesen, aber auf Deutsch oder Englisch ist das natürlich etwas anderes als auf Ungarisch. Die Teilnehmenden mit Down-Syndrom hingegen waren auf Leichte Sprache angewiesen, ein Geflüchteter auf Deutsch oder Arabisch und eine griechische Teilnehmerin auf Englisch, sodass in mehreren Sprachen kommuniziert werden musste – dafür sind die außergewöhnlichen Kosten und die Inklusionspauschale wichtig.

Nicht nur für die Freiwilligen, auch für die Schülerinnen und Schüler war so ein Umfeld bestimmt eine neue Erfahrung?

Ja, sie nehmen nicht die ganze Zeit am Workcamp teil sondern kommen für fünf Tage dazu. Um es für sie so niedrigschwellig wie möglich zu machen, kommen die Freiwilligen am ersten Tag für ein Kennenlernfrühstück in die Schule. Da sehen sie, wie es dort aussieht und die Schülerinnen und Schüler sind noch in ihrer gewohnten Umgebung, sodass Berührungsängste genommen werden können. Wenn das Eis gebrochen ist, kommen sie dann in das neue Umfeld, den Gemeinschaftsgarten.

Der Garten ist eine 4.000 Quadratmeter ehemalige Kleingartenkolonie. Wie muss man sich diesen Ort denn vorstellen – vor und nach dem Workcamp

Die Kolonie liegt in Engelsdorf, das ist ein Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf. Das Areal war verwahrlost und verwildert und musste erstmal vollständig begehbar gemacht werden beim ersten Workcamp im Spätsommer 2019. In den 14 Tagen ist so viel entstanden: Da wurde eine große Hecke herausgerissen und Anbauflächen geschaffen. Wir haben Bungalows gestrichen und einen Graffiti-Workshop gemacht, bei dem die Freiwilligen ihre Spuren hinterlassen haben. Auch haben wir einen Werkzeug- und einen Küchen-Bungalow eingerichtet, Hochbeete, zum Teil auch unterfahrbare, angelegt und eine barrierefreie Kompost-Toilette aufgebaut und in Betrieb genommen. Wir hatten eine Teilnehmerin aus Spanien, die im Rollstuhl saß und sich erstaunlich gut in dem Gelände bewegen konnte – obwohl es noch gar keine gepflasterten Wege gab.

Von ihren Erfahrungen konnte bestimmt auch Einiges für die Praxis gelernt werden?

Ja, das direkte Feedback dazu, wie die angelegten Wege oder die barrierefreie Kompost-Toilette mit Rollstuhl nutzbar sind, war eine echte Bereicherung. Eine andere Bereicherung sind die unterschiedlichen Kontexte, aus denen die Teilnehmenden kommen: Eine Freiwillige aus Russland, fragte eines Nachmittags einen Teamerin, ob ein Mädchen aus der Förderschul-Klasse mit Down-Syndrom aus Asien komme – da ist uns bewusst geworden, dass das ihr erster Berührungspunkt mit dem Thema war. 

Und war der Austausch im vergangenen Jahr auch so international?

Coronabedingt hatten wir bei dem Camp weniger Teilnehmende aus dem Ausland – dafür mehr aus Deutschland. Wir haben erstmals gezielt Gemeinschaftsunterkünfte aus Leipzig angeschrieben, um auch Menschen mit Fluchthintergrund im Projekt zu integrieren. Einer kam ursprünglich aus dem Irak und hatte sich bei einer Autoexplosion extreme Verbrennungen zugezogen, unter anderem auch an den Händen. Er hat dann aber, als wir Erdarbeiten gemacht haben,einfach das ganze Team angefeuert und eine Strichliste geführt, mit der er die Schubkarren, über 180, gezählt hat – das war eine schöne Erfahrung für ihn, aber auch für die Teilnehmenden.

Und dadurch ist auch die lokale Ebene nochmals stärker in das Projekt gekommen?

Die Nachbarschaft sieht natürlich jeden Tag, was sich verändert im Garten.Teil des Projekts ist ein interkulturelles Sommerfest am Wochenende zu dem wir jeden, der interessiert ist, einladen. Da wird gern auch von den Freiwilligen Musik gemacht, und all das, was wir bei der Ernteverarbeitung gemacht haben angeboten, also z.B. Pflaumenkuchen, Marmelade oder verarbeitete Kräuter. Das ist natürlich Anziehungspunkt für die Nachbarschaft, die sieht, dass das ein Lernort für alle ist.

So ein Garten ist ja nie fertig, sondern ein lebendiges Projekt. Was ist denn während der Corona-Edition des Freiwilligenteams neu entstanden?

Wir haben Kräuterseifen selbst gemacht und mit Naturfarben Stoffmasken gebatikt. Ansonsten suchen wir uns immer ein Areal aus, um es nach und nach weiterzuentwickeln. Das war 2020 eine Bienen-Fläche. Dafür wurde wieder ein Bungalow saniert, eine Wegführung angelegt mit Steinplatten und einer kleinen Rampe, damit auch die Rollstuhlfahrer hinkommen und ein Sandarium angelegt. Auch haben wir einen Zaun gebaut und jeder Teilnehmende hat eine Latte gestaltet mit Nägeln, Farben und Wolle. Ab diesem Jahr sollen dort die ersten Workshops folgen. Für das nächste Freiwilligenteam haben wir uns vorgenommen einen kleinen Waldgarten zu gestalten.

Ist denn über die Camps hinaus, etwas entstanden, das Sie bei der Antragstellung für das Projekt so gar nicht mitbedacht hatten?

Ja, sicher! Die Schülerinnen und Schüler der Förderschule Thonberg waren 2019 so begeistert von den Erfahrungen mit dem Freiwilligenteam, dass sie eine Englisch AG gegründet haben. Dass so etwas passiert und der Ball ins Rollen kommt, hatten wir natürlich nicht erwartet. Es ist entscheidend, lokale Akteure mit ins Boot zu holen – erst dann haben die Einsätze einen nachhaltigen Effekt. Dann können wir uns teilweise auch etwas zurückziehen, weil die Netzwerke da sind. Zum Beispiel gibt es jetzt die Möglichkeit für ein Praktikum im Garten für die Schülerinnen und Schüler der Förderschule und der Verein will zukünftig auch einen Ausbildungsplatz pro Jahr schaffen.

Was sind aus Ihrer Sicht Herausforderungen bei inklusiven Freiwilligenteams?

Eine Herausforderung besteht darin, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Teilnehmenden gerecht zu werden. Hierfür braucht es gute Kooperationspartner, auch die Inklusionspauschalen können helfen. Herausforderndsind auch die Rahmenbedingungen, zum Beispiel bei der Akquise der Teilnehmenden. Für viele ist das Registrieren im ESK-Portal oder das ,,Matching“ über das PASS-Tool eine Hürde. De facto haben das die Organisationen oder die Eltern mit den Freiwilligen gemacht. Ich habe detaillierte Anleitungen mit Screenshots verschickt und in Videocalls unterstützt, das war recht aufwendig. Das gleiche Problem entstand nach Abschluss des Projekts mit den Berichten: Wenn junge Menschen z.B. das Down-Syndrom haben, werden die einfach oftmals nicht ausgefüllt und es muss viel hinterher telefoniert und unterstützt werden. Wenn man wirklich benachteiligte junge Menschen einbeziehen will, müssen die Verfahren niedrigschwelliger werden.

Im September soll das nächste Freiwilligenteam stattfinden. Sind Sie trotz der aktuellen Corona-Situation positiv was die Umsetzung angeht?

Ja, wir sind positiv gestimmt, weil die Fördermittel schon da sind und wir bald anfangen, das Freiwilligenteam auszuschreiben. Im letzten Jahr hatten wir keine Planungssicherheit: Wir haben das Projekt im April gecancelt und dann im Juni wieder Hoffnung gehabt, weil es überwiegend im Freien stattfindet. Da hatten wir nur noch zwei Monate Vorlauf für die Planung. Das ist sehr wenig – insbesondere wenn man mit Teilnehmenden mit Beeinträchtigung arbeitet. In diesem Jahr planen wir mit Corona-Schnelltests zu arbeiten vor der Abreise der Teilnehmenden und nach der Ankunft in Leipzig. Da wollen wir die außergewöhnlichen Kosten für nutzen.

(Das Interview führte Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa)

Fotos: VILLA gGmbH