19.02.2021

ESK in Corona-Zeiten: Vom analogen zum digitalen Dienst

Kaffeemobil mit Menschen auf Stühlen, die im Kreis sitzenEin europäischer Freiwilligendienst in Corona-Zeiten ist vielleicht etwas anders als ausgemalt, aber auch eine Chance, unerwartete Fähigkeiten zu erlernen. Zumindest beim Kasseler Verein piano e.V., in dem momentan drei Freiwillige aus Frankreich, Italien und Ungarn ihren Einsatz im Europäischen Solidaritätskorps leisten – derzeit überwiegend digital.

Auf einer Grünfläche in einer Kasseler Nachbarschaft steht eine umgebaute schwarz lackierte Ape. Im Heck ist eine silbern blitzende professionelle Siebträgermaschine verbaut. „Schön Sie zu sehen“ steht in weißen Buchstaben auf dem hochgeklappten Verdeck geschrieben und „gönnen Sie sich eine Kaffeepause.“ Um das Kaffeemobil des Kasseler Vereins piano e.V. stehen – mit Abstand – Gartenstühle, auf denen Menschen jeden Alters sitzen und sich austauschen.

Diese Szene lässt nicht vermuten wie besonders der Moment für viele der Menschen dort ist, denn eigentlich gehört Austausch zu ihrem Alltag – nicht aber in der Zeit des ersten Corona-Lockdowns. Im März 2020 musste der in der Nachbarschaftshilfe engagierte Verein alle sechs Nachbarschaftstreffs in den Stadtteilen der nordhessischen Großstadt schließen. Erst mit dem Kaffeemobil war der gemeinsame Austausch nach Monaten in den eigenen vier Wänden wieder möglich. Immer mit dabei in den Sommermonaten: Die europäischen ESK-Freiwilligen des Vereins aus Frankreich, Italien und Ungarn.

Vom Kochabend bis zur Bastelwerkstatt

Ingo Michler vom Verein erzählt von den Anfängen des Projekts: „Die gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft wollte Treffs für ihre Mieter organisieren, um in den Quartieren das soziale Moment einkehren zu lassen – und, damit nicht so viele Mieterwechsel stattfinden“, sagt er. Viele ältere Menschen begonnen die Räume zu nutzen für Kochprojekte, Nachmittagskaffees und Aktivitäten wie Filmabende, sie luden andere Menschen ein. Auch bietet piano e.V. selbst Angebote über Quartiersmanager und Nachbarschaftshelfer – etwa Sportkurse oder eine Bastelwerkstatt. Auch um eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete kümmert sich der Verein: Dort leben etwa 120 Personen, davon über 60 Kinder unter 12 Jahren.

„Der erste Lockdown führte dazu, dass wir von jetzt auf gleich alles umkrempeln mussten, was die Nachbarschaftstreffs anging, aber auch die Freiwilligeneinsätze“, erzählt Michler über die große Aufregung im Frühjahr 2020. „Die Ungarn holten ihre Freiwillige von heute auf morgen zurück, eine französische Freiwillige kam nach einer Reise über ihren Geburtstag nicht mehr zurück nach Deutschland und der dritte Freiwillige wollte zu seiner Familie“, berichtet Michler. Er sei dann zu Fuß von Deutschland über die Brücke nach Frankreich eingereist, weil Autos schon nicht mehr passieren durften. Nur der vierte Freiwillige, Enrico, wollte den Dienst nicht unterbrechen, weil die Situation in seiner italienischen Heimat noch viel schwieriger war, erinnert sich Ingo Michler.

Vom analogen zum digitalen Dienst

„Er war die Brücke für die anderen drei Freiwilligen, die ihren Dienst aus dem Homeoffice in ihrer Heimat fortsetzten“, berichtet er. Nach Absprache mit der Nationalen Agentur konnten die Jugendlichen im Programm bleiben und eine reduzierte Stundenzahl für piano e.V. leisten und sich ebenfalls in ihren Heimatorganisationen einbringen. Oft ging es um die Versorgung älterer Personen oder das Kochen typischer Rezepte aus der Heimat inklusive Video-Anleitung. Auch wurden Malvorlagen für die Kinder in der Gemeinschaftsunterkunft erstellt und Geschichten geschrieben, die Enrico dann vor Ort austeilte.

Digital begann auch der Einsatz für Tamara Szabo (29) aus Ungarn: „Ich habe piano im Dezember 2020 vom Homeoffice aus kennengelernt und erste Videos erstellt, bevor ich dann Anfang Januar nach Kassel gereist bin“, erzählt die 29-Jährige. Nach ihrer Ankunft musste sie für zehn Tage in Quarantäne. „Das war aber kein Problem für mich – ich habe viel gekocht und wenn ich etwas brauchte, haben die anderen beiden Freiwilligen es besorgt und vor meine Tür gestellt“, erzählt sie von dem etwas holprigen Start in Deutschland.

„Jetzt den Freiwilligendienst zu machen, hat einfach gepasst, denn ich hatte meinen Job wegen Corona verloren“, erzählt Szabo. Schon im Studium hatte sie ein Auslandssemester in Großbritannien absolviert. Sie recherchierte, wo sie etwas Verwandtes mit ihrer vorherigen Tätigkeit im Bereich Soziale Arbeit machen konnte – und auch eine zweite Fremdsprache wollte sie lernen.

Nach dutzenden E-Mails und Absagen landete sie bei piano e.V.: „Die meisten schrieben, dass erst im Sommer wieder ein Platz frei sei, aber dann wäre ich schon zu alt gewesen. Bei piano hat es direkt gepasst“, berichtet Szabo. Von dem Einsatzort hatte sie vorher noch nie etwas gehört: „Ich komme aus einer 17.000 Einwohner-Stadt in der Nähe von Debrecen – Kassel ist für mich riesig, aber die Menschen sind nett und hilfsbereit“, schildert sie ihre ersten Eindrücke.

Ein bisschen mehr Normalität

„Trotz der Situation haben die Freiwilligen den Dienst aus dem Homeoffice bislang als befriedigend wahrgenommen“, erzählt Ingo Michler, der die Jugendlichen zusammen mit drei weiteren Kollegen betreut. Dennoch war die Freude groß, als die Freiwilligen nach dem ersten Lockdown zurückkehrten nach Kassel. „Der Dienst hat sich noch stärker auf die Kommunikation verlagert in der Zeit“, erzählt Michler. „Gerade auch bei der Bedienung von digitalen Geräten mussten die Freiwilligen intensiv unterstützen. Da gab es viele Fragen, die an Haustüren, Fenstern und telefonisch geklärt werden mussten“, berichtet er.

Die Nachbarschaftstreffs sind bis heute geschlossen. Vieles wurde in Einzelbegegnungen erledigt, die Gespräche wurden oft intensiver – eine ältere Dame teilte ihre Lebensgeschichte mit dem französischen Freiwilligen und gab ihm den Auftrag, ihr ein aktuelles Foto von Skulpturen, die sie in den 1960er Jahren in Mühlhausen im Osten Frankreichs aufgestellt hatte, zu schicken. „Da konnten auch Vorurteile abgebaut werden in dieser Zeit, das hätte ich vorher so nicht vermutet“, erzählt Michler.

Digitale Kleiderkammer statt Flohmarkt

Die Projekte wurden weiter digital umgewandelt: Die Freiwilligen erstellten etwa eine digitale Kleiderkammer, einen Online-Katalog mit gebrauchter Kleidung. Mithilfe dessen konnten sich die Menschen aussuchen, was sie brauchten. Zuletzt entstand ein Projekt, bei dem Bilder aus den Wohnungen verstorbener Menschen ein neues Zuhause bekamen: „Die Bilder haben den Menschen etwas bedeutet, sonst hätten sie ja nicht an den Wänden gehangen. Wir haben sie zusammengetragen und eine Online-Ausstellung draus gemacht“, erklärt Michler. Die Bilder soll man aber nicht kaufen können, sondern über einen sozialen Einsatz als Gegenleistung erwerben, ergänzt Tamara Szabo.

„Das Projekt geht bald online. Die Idee ist, dass es wie ein kleiner Online-Basar wird“, sagt sie. „Manchmal bin ich schon traurig, dass wir nicht persönlich zu den älteren Leuten und den Geflüchteten gehen können und zusammen etwas erstellen.“ Auch sei es eine Herausforderung für sie, eine professionelle Kamera, Ton und Schnittprogramm zu bedienen – aber auch eine gute Fähigkeit für ihre Zukunft. Langweilig werde es selten; die freie Zeit vertreibe sie sich mit Deutschunterricht und Gitarrespielen: „Ein Kollege von piano bringt mir das bei und außerdem habe ich das Ziel, jede Bäckerei hier in Kassel auszuprobieren, das braucht auch etwas Zeit“, erzählt sie lachend.

Mehr erklären nötig

Gerade bei den jüngeren Freiwilligen, bei denen die Familie noch eine größere Rolle spielt, müsse noch mehr erklärt werden als sonst, berichtet Michler. „Wir haben vor der Auswahl der Freiwilligen darüber gesprochen, dass wir vermuten, dass es im Winter wieder mehr Kontaktbeschränkungen geben wird, sodass der Dienst verstärkt im Onlinebereich stattfinden muss“, sagt er. Trotzdem sei es nochmals etwas anderes für einige, diesen Lernprozess dann auch anzunehmen. „Es klingt etwas blöd, aber in Zeiten, in denen nicht alles reibungslos läuft, einen Freiwilligendienst zu machen, ist für manche auch ein großes Glück“, sagt Michler mit Blick auf die nun erlernten Kompetenzen und die Selbstständigkeit, die in den nächsten Lebens- und Karriereschritten von Nutzen seien.

Trotzdem könne man derzeit nicht einfach allen Jugendlichen sagen, dass sie für einen Dienst kommen können, sondern müsse schauen, ob Vorstellungen und Realität zusammenpassten. Ob die Jugendlichen also zum Beispiel diszipliniert genug seien ein Projekt eigeninitiativ umzusetzen oder mit Frustration umgehen wollen. „Wir müssen ein bisschen mehr pädagogische Arbeit und Aufbau leisten als sonst, um auf die Nöte und Sorgen einzugehen“, sagt Michler. Dabei sei eine Erkenntnis in der Pandemie noch gewachsen: Immer die Ideen der Freiwilligen aufzugreifen, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht passten. Das sei der Schlüssel für die Organisation – auch um diese stetig weiterzuentwickeln.

(Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa)

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Weiterführende Informationen

Alle Fragen und Antworten zu ESK-Projekten in der Corona-Zeit auf der Website des Europäischen Solidaritätskorps unter https://www.solidaritaetskorps.de/service/corona/