19.01.2021

"Abwarten und Tee trinken?" Die EU-Jugendprogramme und der Brexit

Mann vor einer Moederationswand, auf der die Umrisse Europas abgebildet sindDie Scheidung zwischen der EU und Großbritannien ist seit Jahresbeginn besiegelt. Der Brexit wirft Fragen auf, wie die Zusammenarbeit zukünftig aussehen wird und welche Folgen er für die Trägerlandschaft im Erasmus+-Programm und im Europäischen Solidaritätskorps (ESK) hat. JUGEND für Europa mit ein paar Antworten zu den Folgen mitten im Corona-Chaos.

"Abwarten und Tee trinken" – das schien bei den monatelangen Verhandlungen über das Brexit-Abkommen lange das Motto der britischen Regierung gewesen zu sein. An Dramatik kaum zu überbieten, wurde am 24. Dezember 2020, kurz vor Ende der Übergangsfrist, der sogenannte Partnerschaftsvertrag zwischen der Europäischen Union (EU) und Großbritannien ausgehandelt und damit der harte Bruch zwischen den einstigen Partnern vermieden. Doch der Aufschrei, als bekannt wurde, dass das Vereinigte Königreich aus dem Erasmus+-Programm aussteigt, war dennoch groß. Die Teilnahme an den EU-Jugendprogrammen fortzusetzen sei "extrem teuer", zu teuer für sein Land, erklärte der britische Premier Boris Johnson Anfang Januar.

Überlagert wird der Brexit und seine Folgen von der Corona-Pandemie inklusive eines mutierten Virus’, das Großbritannien und die EU seit einigen Wochen weitere Kraftanstrengungen kostet. "Das sind extreme Herausforderungen für die Organisationen und sie sind auch nicht getrennt voneinander zu betrachten", betont Annett Wiedermann vom YES Forum in Stuttgart, die seit einigen Jahren mit größeren britischen Charity-Organisationen aus Jugendarbeit und -hilfe im Erasmus+-Programm zusammenarbeiten.

Derzeit werde deshalb viel sortiert, um in den kommenden Wochen in gemeinsamen Treffen zu überlegen, wie es künftig weitergehe – mit den Folgen des Brexit, aber auch mit Corona. Schwierig bleiben sicher die unsichere Rechtslage und die nun mit Austauschen verbundenen Kosten. Deshalb gelte in ihren Empfehlungen an Jugendliche derzeit Zurückhaltung. Vor allem Jugendliche mit besonderem Förderbedarf, mit denen man verstärkt arbeitet, hätten derzeit auch andere Sorgen, sodass es erstmal gelte, Ruhe zu bewahren, sagt Wiedermann.

"Eigentlich bemerken wir schon seitdem der Brexit als Option im Raum stand, dass es schwieriger wurde in unserer Zusammenarbeit und es eine gewisse Zurückhaltung bei bestimmten Formaten europäischer Förderprogramme gab“, berichtet sie weiter. Zuletzt habe es etwa ein Projekt gegeben, bei dem der britische Partner im laufenden Projekt abgesprungen sei. Ob der Brexit oder nicht eher die Pandemie damit zu tun habe, sei unklar, sagt Wiedermann und verweist auf die Reisebeschränkungen und den engen Rahmen der Corona-Auflagen für Einrichtungen und Fachkräfte, etwa an Schulen für lernbehinderte Menschen. Diese erschwerten die bereits unsichere Lage weiter.

Was gilt für bereits bewilligte Projekte?

Das Vereinigte Königreich hat bereits mit dem 31. Januar 2020 die EU verlassen und ist seitdem rechtlich kein Mitglied der Union mehr. Bis Dezember 2020 galt eine Übergangsregelung, die sicherte, dass Großbritannien bis dahin weiterhin an den EU-Programmen Erasmus+ und Europäisches Solidaritätskorps teilnahm.

Für alle Projekte, die bis Ende 2020 über Erasmus+ oder das Europäische Solidaritätskorps bewilligt wurden und an denen britische Organisation beteiligt sind, gilt auch weiterhin: Sie können ihr Projekt über die gesamte Dauer bis zum geplanten Projektende durchführen. Dies gilt sowohl für britische Teilnehmende wie für Jugendliche und Fachkräfte, die nach Großbritannien einreisen – und es gilt, bis das letzte laufende Projekt abgeschlossen ist.

Katja Fischer vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) in Sachsen-Anhalt arbeitet bereits seit acht Jahren mit Jugendlichen aus Großbritannien. Mit einigen der knapp einhundert Jugendlichen, die in dieser Zeit in einer Einrichtung in Halle und Umgebung ihren Freiwilligendienst geleistet haben, bestehe immer noch enger Kontakt, erzählt sie. Einige der britischen Jugendlichen seien sogar in der Region geblieben und engagierten sich weiter ehrenamtlich im DRK.

"Wir sind mit drei Jugendlichen aus England gestartet und konnten das auf fünf und zuletzt auf zwölf Jugendliche steigern. Das ist eingeschlagen wie eine Bombe, die britischen Jugendlichen waren total begeistert", erzählt Fischer. Insgesamt sei die Engagement-Bereitschaft aber in Deutschland wesentlich höher, daher habe man immer mit den gleichen Einrichtungen zusammengearbeitet – in Deutschland hätte es sogar noch mehr Bedarf gegeben, aber da fehlte die Werbung in England, vermutet Fischer.

Klar ist für Fischer derzeit nur, dass der Austausch mit Großbritannien aufwändiger werden wird. "Die Zusammenarbeit mit dem Britischen Roten Kreuz ist immer sehr gut gewesen. Wir suchen die Jugendlichen sogar üblicherweise gemeinsam aus", erzählt sie. Geplant war eigentlich, dass im Oktober 2020 ein Freiwilligen-Jahrgang nach Sachsen-Anhalt kommt, doch dann kam Corona, sodass der Einsatzbeginn erstmal auf April 2021 verschoben wurde – ob es dabei bleibt, steht in den Sternen.

"Die Jugendlichen sind schon ausgewählt, eigentlich fahren wir immer nach England und nehmen ehemalige Freiwillige mit für die Auswahl. Das hat jetzt alles nur über Videokonferenzen stattgefunden", sagt Fischer. Das Problem ist die Quarantäne nach der Einreise in Deutschland: „Wir haben Wohnraum angemietet, aber weil das Wohngemeinschaften sind, kann die Quarantäne nicht den Bestimmungen nach eingehalten werden, weil die Freiwilligen dort nicht ganz alleine wohnen", erklärt sie.

Die Visa-Frage

Europaflagge umgeben von Infomaterial zu EuropaSeit dem 31. Dezember 2020 kann es erforderlich sein, dass spezielle Visa nötig sind, um nach Großbritannien einzureisen. Bis zum 30.09.2021 ist die Einreise für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger noch mit Personalausweis und Reisepass erlaubt. Ab dem 01.10.2021 ist die Einreise für EU-Bürgerinnen und EU-Bürger dann nur noch mit einem gültigen Reisepass möglich.

Für einen Freiwilligen-Einsatz braucht es unabhängig von der Dauer ein Visum, das mindestens drei Monate vor Antritt des Dienstes beantragt werden muss. Neben diesen Kosten fällt auch ein Gesundheitsbeitrag an. Für Erasmus+-Aufenthalt mit einer Dauer von bis zu sechs Monaten ist kein Visum nötig, sofern es nicht schon bisher erforderlich war – der Aufenthaltszweck ist auf die Teilnahme an der Aktivität beschränkt, das schließt eine bezahlte Tätigkeit aus.

Auch für Jugendliche aus Großbritannien gibt es einige Dinge zu beachten: Seit dem 01. Oktober 2021 ist für die Einreise in die EU ein gültiger Reisepass nötig und auch was die Krankenversicherung betrifft, gibt es Änderungen: So gilt zum Beispiel die European Health Insurance Card (EHIC) nur noch bis zum jeweiligen Ablaufdatum der Karte.

Insbesondere weil ein Freiwilligendienst zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitrage sei der nun vollzogene Brexit tragisch, sagt Fischer: "Uns würde es sehr schwer fallen, wenn wir künftig keine Jugendlichen aus England mehr aufnehmen könnten, aber wir warten jetzt erstmal neue Informationen ab", sagt sie.

Man habe auch über andere Wege, wie etwa den Bundesfreiwilligendienst nachgedacht, aber da sei die Förderung oftmals sehr viel schlechter als im ESK, betont sie. Derzeit sei die Nachfrage von Jugendlichen aus Osteuropa und aus Übersee groß: "Die schaffen das mit der Visa-Beantragung und kommen auch mit den Mitteln klar, aber ob das auch für britische Jugendliche attraktiv ist, das weiß ich nicht", sagt Fischer.

Wie geht es weiter mit dem Austausch?

Als Ersatz für das Erasmus+-Programm hat Premier Johnson ein nach dem britischen Computerpionier Alan Turing benanntes Ersatzprogramm angekündigt, das ab September 2021 starten soll. Es gilt nach derzeitigem Stand nur für britische Staatsbürger und nur für Auslandsaufenthalte zu Studien-, schulischen und Berufsbildungszwecken.

Aus EU-Sicht bedeutet der Ausstieg Großbritanniens aus den EU-Jugendprogrammen, dass das Land für den Zugang zu diesen gemäß Artikel 16 der Verordnung zum Nachfolgeprogramm seit dem 1. Januar 2021 als Drittstaat behandelt werden kann – nötig ist von Seiten des Vereinigten Königsreichs aber eine spezifische Vereinbarung, in der das Land alle Bedingungen der EU erfüllen muss – dies gilt zum jetzigen Zeitpunkt nicht als gesichert. Also gilt das britische Motto auch jetzt weiter: Abwarten und Tee trinken.

(Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa)

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Weitere Informationen

Link: www.jugendfuereuropa.de/news/11022-der-brexit-ist-vollzogen-das-sind-die-folgen-fuer-erasmus-und-das-europaeische-solidaritaetskorps/