28.08.2013

"Youthpass ist ein hochinteressantes Anerkennungsinstrument von großer Relevanz"

Welche Rolle kann der Youthpass in Zukunft spielen? Eine noch viel größere als bislang, sagt der Niederländer Matthijs Leendertse von der "Erasmus University" in Rotterdam. Der Wissenschaftler sprach anlässlich der Vorstellung der Youthpass-Wirkungsstudie in Brüssel über die Zukunft des Lernens.

Herr Leendertse, die Europäische Kommission würdigt den Youthpass als ein sehr erfolgreiches und effektives Anerkennungsinstrument im Bereich des non-formalen Lernens. Für Sie als Lernforscher: Wo gibt es noch Luft nach oben?

Der Youthpass ist ein hochinteressantes Anerkennungsinstrument von großer Relevanz. Immer mehr Politiker und Arbeitgeber begreifen inzwischen, dass ein Großteil unseres Lernens außerhalb formaler Bildung stattfindet. Für die Jugendlichen ist es wichtig, dass es einen europäischen Standard gibt, der ihre Lernerfolge auch wirklich dokumentiert.

Ich persönlich denke, dass der Youthpass so viel Potenzial besitzt, dass er als Zertifizierungsinstrument von jedem europäischen Bürger und jeder Organisation genutzt werden könnte – weit über die Internationale Jugendarbeit hinaus. Das verlangt einen offenen Standard und vor allem den Einsatz moderner Technologie.

Wo sehen Sie den Youthpass in den nächsten zehn Jahren?

Schwer zu prognostizieren. Derzeit kann ich die Macher nur ermuntern, sich weiter dem Nutzen und Mehrwert von "Social Media" zu widmen. Wenn man mit aktuellen Trends Schritt hält, ist vieles möglich. Der Bedarf ist sicherlich da. Wichtig wäre mir, dass das Produkt nicht kommerzialisiert wird. Die Zertifizierung sollte immer in den Händen unabhängiger "Experten" und Organisationen verbleiben.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit der Zukunft des Lernens. Wie sieht die aus?

Ich würde da drei Entwicklungen herausstellen, die aus meiner Sicht künftig immer mehr an Bedeutung gewinnen.

  1. "Engaging learning" (Lernen mit Eigenmotivation)
    Das bedeutet nichts anderes, als dass wir lernen WOLLEN, weil uns das Thema anspricht, weil es anziehend oder besonders interessant ist. Um das zu erreichen, muss das Lernen personal, sozial und interaktiv ausgerichtet sein. Personal meint: Das Lernen muss auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche eingehen. Es wird sozialer werden, weil der Austausch mit anderen – zum Beispiel über "Social Media" – immer mehr an Bedeutung gewinnt. Schließlich spielt auch die interaktive Ausrichtung eine zentrale Rolle. Unmittelbares Feedback, schnelle Sichtbarkeit von Arbeitsergebnissen – all das wird in Zukunft einen größeren Stellenwert haben. Sicherlich ist all das nicht neu. Ein guter Lehrer wird seinen Unterricht auch heute schon so gestalten. Neu ist aber, dass wir die zur Verfügung stehende Technologie inzwischen zur so genannten Massen-Personalisierung einsetzen können. Personales, soziales und interaktives Lernen wird so für JEDEN Menschen möglich.

  2. "Flexibility in learning" (Flexibles Lernen)
    Das Lernen wurde früher immer ausschließlich mit formalen Institutionen wie Schule in Verbindung gebracht. Inzwischen wissen wir, dass das Lernen überall stattfindet. Die Welt ist unser Klassenraum geworden. Wenn man das anerkennt, kommt man gar nicht darum herum, die Lerngelegenheiten außerhalb der formalen Bildung weiterzuentwickeln. An einem Ort zu einer bestimmten Zeit sein zu müssen, um etwas zu lernen – all das spielt dank der neuen Technologien kaum noch eine Rolle. Für das Lernen der Zukunft eine große Herausforderung.

  3. "New ways of testing and certification"  (Neue Wege der Zertifizierung)
    Wir bewegen uns gegenwärtig auf eine Situation zu, in der das Wissen und die Kompetenzen von Menschen nicht mehr standardisiert in einem bestimmten Setting zu einem bestimmten Zeitpunkt erfasst werden (zum Beispiel klassische Prüfungen), sondern Prozessbeobachtungen immer stärker in den Fokus rücken. Langzeitbeobachtungen von Prüflingen, Monitoring von neu erworbenen skills. Auch hier wird uns die neue Technik helfen. Derzeit haben formale Institutionen noch ein Zertifizierungsmonopol. Es ist aber durchaus denkbar, dass das nicht so bleibt. Es ist sogar vorstellbar, dass die Zertifizierung vom formalen Lernen komplett getrennt wird. Ich denke da an meine Studenten. Für mich ist es beispielsweise entscheidend, ob ein junger lernender Mensch alle seine Begabungen zum Ausdruck bringen kann oder nicht. Ob er diese durch formale, non-formale oder informelle Bildung erworben hat, ist dabei völlig irrelevant.

Sie sprechen auch immer wieder davon, dass Online-Spiele beim Lernen helfen können. "Failing forward", "nach vorne scheitern" nennen Sie das. Was heißt das genau?

Viele der Trends, die ich oben bereits beschrieben habe, finden sich in Online-Spielen wieder. Ich bin überzeugt: Computerspiele lehren uns vor allem, wie wir in einer Lern-und Bewährungssituation Spaß haben können. Haben Sie sich jemals gefragt, warum Menschen ein und dasselbe Level von "Angry Birds" 50 mal spielen? Warum sie so motiviert sind, immer wieder in das nächsthöhere Level zu gelangen?

Die meisten Menschen würden sich schlecht fühlen, wenn sie auch beim zweiten oder dritten Anlauf nicht ihr Examen geschafft hätten. Bei Computerspielen ist das anders. Das Scheitern ist dort eine Lerngelegenheit bzw. eine Lernvoraussetzung. Man kommt durch kein Spiel, ohne zuvor gescheitert zu sein. Viele würden sogar das Interesse am Spiel verlieren, wenn sie alle Levels auf Anhieb schaffen würden. Genau das nennen wir in der Wissenschaft "Failing forward", "nach vorne scheitern". Wir lernen, gerade weil wir vorher Misserfolg hatten. Im traditionellen Lernen läuft das leider genau anders. Das Scheitern wird verteufelt – mit all seinen fatalen Wirkungen für Selbstwert, Spaß und Lernoffenheit.

Welches Wissen und welche Kompetenzen sollten junge Menschen aus Ihrer Sicht heute haben?

Um es ganz klar zu sagen: Das so genannte traditionelle "Wissen" bleibt wichtig. Sprachen lernen, Mathematik verstehen, Allgemeinbildung erwerben – all das hilft auch, Kontexte zu verstehen. Wenn manche Menschen sagen, Jugendliche sollten keine bestimmten Fakten mehr lernen, weil sich heutzutage alles googeln lässt, dann widerspreche ich. Ohne die entsprechende Allgemeinbildung – eine klassische Säule unseres Bildungsverständnisses – würden junge Menschen nicht mal die richtigen Begriffe bei google suchen, geschweige denn sie kritisch bewerten oder interpretieren können. Mit anderen Worten: Sie wären vielleicht gut darin, etwas zu suchen, nicht aber darin, etwas zu finden.

Es gibt aber auch ein paar Kompetenzen, die künftig sicherlich an Bedeutung gewinnen:

  1. "Solving complex information problems" (Das Lösen komplexer Problemstellungen)
    Es ist kein großes Geheimnis, aber in einer zunehmend globalisierten, vernetzten und komplexer werdenden Welt steigt die Erwartung an den einzelnen, (größere) Zusammenhänge in Eigenleistung herzustellen. Das betrifft sowohl den Umgang mit Neuen Medien als auch die Fähigkeit, Daten genauer zu analysieren oder unterschiedliche Standpunkte in eine Debatte mit einzuarbeiten.

  2. "Social / soft skills" (Soziale Kompetenz)
    Die Entwicklung sozialer Kompetenzen spielt in der formalen Bildung noch immer eine sehr untergeordnete Rolle. Wir arbeitet man in einer internationalen und mulitkulturelle Umgebung? Wie arbeite ich erfolgreich in Teams? Wie kommuniziere ich effektiv mit anderen? Nur wer solche Kompetenzen erlernt hat, wird künftig Erfolg an seinem Arbeitsplatz haben.

  3. "Self management skills" (Selbstmanagement-Kompetenz)
    Wer vor 30 oder 40 Jahren einen Job angefangen hat, konnte noch getrost davon ausgehen, dass er diese Arbeit bis zur Rente ausführt, wenn er denn will. Das ist heute nicht mehr so. Feste langfristige Jobs gibt es kaum noch. Umso wichtiger ist es für junge Menschen, dass sie ihr Leben selbst besser in den Griff bekommen können. Sie müssen immer wieder neu lernen, die richtige Balance zwischen Arbeit und Berufsleben hinzubekommen. Sie müssen in der Lage sein, ihre Lern- und Karrierestrategien immer wieder neu zu hinterfragen und anzupassen. Das alles erfordert ein hohes Maß an Selbstmanagement-Kompetenz.

Ärgert es sie eigentlich, dass die non-formale Bildung noch immer viel weniger finanzielle Unterstützung erfährt als die formale?

Ja, sehr – wenngleich ich auch Verständnis für frühere Entwicklungen habe. Nach der Industriellen Revolution war die formale Bildung nun mal die einzige, die so flächendeckend organisiert werden konnte.

Inzwischen haben sich die Zeiten aber geändert. Wir leben in einem Informations- und Technologiezeitalter, in der die non-formale und die informelle Bildung voll genutzt werden könnten. Das muss übrigens nicht auf Kosten der formalen Bildung geschehen. Trotzdem fehlt der politische Wille. Die europäische Bildungspolitik ist jedenfalls noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.

(Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa)

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Matthijs Leendertse lehrt an der Erasmus University in Rotterdam. Mehr zu seiner Person erfahren Sie hier...

Alles zum Youthpass erfahren Sie auf unserer Seite www.youthpass.eu.

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