12.05.2013

"Forscher-Praktiker-Politiker-Dialog wäre eine große Chance"

Die Förderung und Wertschätzung von "Mobilität zu Lernzwecken" ist für die EU-Kommission längst zum Garant einer zukunftsfähigen Jugendpolitik geworden. Woran es europaweit allerdings noch fehlt, ist die enge Verzahnung zwischen Forschung, Praxis und Politik.

Ein Interview mit Prof. Dr. Günther Friesenhahn von der Hochschule Koblenz.

FriesenhahnEnde März fand in Berlin die erste Konferenz der Europäischen Plattform für Mobilität im Jugendbereich statt. Der Titel: „Mobility Spaces, Learning Spaces – Linking Policy, Research and Practice“. Mit dabei: Prof. Günter Friesenhahn, Dekan des Fachbereichs Sozialwissenschaften und langjähriges Mitglied des Forscher-Praktiker-Dialogs an der Hochschule Koblenz.

Herr Prof. Friesenhahn, ein Kompendium mit dem Titel „Learning mobility and non-formal learning in European contexts“ wird demnächst erscheinen. Ein Buch, für das Sie mit Wissenschaftlern aus 20 Ländern zusammengearbeitet haben. Gibt es eine zentrale Botschaft?

Ganz besonders wichtig ist es, in diesem Kontext eine vergleichende europäische Perspektive  einzunehmen. „Learning mobility“ kann insbesondere für bildungsnahe Jugendliche in einigen Ländern Europas als „add-on“ für einen ansonsten relativ ruhigen und stressfreien  Bildungs- und Berufsweg betrachtet und benutzt werden. In anderen Ländern wird „mobility“ quasi zum Rettungsanker, um überhaupt noch Chancen  auf und in einem europäischen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu realisieren. Diese Entwicklungen interessieren mich und sind auch Gegenstand in Lehrveranstaltungen und Publikationen.

In Ihrer Berufsbiografie sind interkulturelles Lernen und Jugendaustausch ein Dauerthema. Wie hat sich Ihre persönliche Einstellung zur Lernmobilität entwickelt?

Ich war bereits 1987 – also schon vor dem offiziellen Start der großen europäischen Mobilitätsprogramme Jugend für Europa, Arion, Erasmus, Austausch junger Arbeitskräfte – an multilateralen Teamer-Schulungen für internationalen Jugendaustausch beteiligt. Das war damals wirklich was Neues. Das hat Begeisterung hervorgerufen und Engagement freigesetzt. Es gab – so kann man das rückblickend resümieren – eine Art euphorische Aufbruchsstimmung, die nicht frei von idealistischen Vorstellungen war. Diese Aufbruchsstimmung wurde auch genährt von damaligen Neu-Akzentuierungen einiger Politikbereiche in der EU.

Pietro Adonnino legte für den ein Jahr zuvor vom Europäischen Rat eingesetzten Ad-hoc-Ausschuss „Europa der Bürger“ 1985 einen Bericht vor, in dem er darlegte, wie man den Bürgern „Europa“ im Alltag erfahrbar machen könne. Diese Perspektiverweiterung  hatte mit der Erkenntnis zu tun, dass der ökonomische und politische Integrationsprozess Europas ohne flankierende soziale und bildungsbezogene Maßnahmen fragmentarisch und instabil bleibe. Anstelle eines Europas der undurchsichtigen, bürokratischen Institutionen sollte ein „Europa der Bürger“ wachsen, in dem sich die Menschen kennen lernen, kulturelle Unterschiede wertschätzen, mobil sind und sich zugleich über eine Bejahung der europäischen Wertegrundlagen eine europäische Identität herausbilden sollte. Aus meiner Sicht ging es um ein soziales Europa, um das Europa der Bürger, um interkulturelles Lernen. Mittlerweile hat sich Vieles verändert – sowohl was die Strukturen angeht als auch meine Bewertung. 

Sie meinen die zunehmend wirtschaftlichen Interessen der Europäischen Kommission?

Dass seitens der EU immer wirtschaftliche Interessen prioritär im Spiel waren, wurde damals zwar auch schon erkannt, aber nicht als Einschränkung für pädagogische und interkulturelle mobilitätsfördernde Lernprozesse gesehen, obwohl schon im Aktionsprogramm Jugend für  Europa 1988 zu lesen war: „Der Rat…hat bekräftigt…dass die Jugendlichen in angemessener Weise auf das Erwachsenen– und Erwerbsleben vorbereitet werden müssen.“

Heute werden die so genannten „employability-Forderungen“, der Ruf nach Beschäftigungsfähigkeit also, viel offensiver vertreten. Das zeigt, das die Programme auf der strukturellen Ebene im Wesentlichen ökonomischen Prämissen zu verdanken sind. Trotzdem können sie auf der persönlichen Ebene fruchtbare und nachhaltige interkulturelle Lernprozesse entfalten. 

Wirkungen, Meßbarkeit von Lernzielen, Sinnhaftigkeit für das nicht-formale Lernen – wie kann man sich solchen Themen überhaupt sinnvoll nähern?

Die Messbarkeit von Lernzielen und der Nachweis von Wirkungen ist vor allem eine  politische Forderung angesichts knapper öffentlicher Kassen. Das passt in den Kontext von neuen Steuerungsmodellen der Sozialverwaltung. Je nach Blickwinkel kann man das als Modernisierung oder als Ökonomisierung der Jugend- und Sozialarbeit betrachten, die heute ja mehr denn je den effizienten Einsatz von Ressourcen belegen muss. Das ist zunächst einmal in einem Handlungsfeld, welches sich vor allem pädagogischen Prämissen verpflichtet fühlt, nicht gut angekommen.

Man kann das aber auch anders betrachten. Viele Studien und Empfehlungen – von PISA über die Leipziger Thesen des Bundesjugendkuratoriums 2002 bis hin zum 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung – haben deutlich gemacht, dass non-formale Lern- und Bildungsprozesse für das Leben von Kindern und Jugendlichen eine hohe, nachhaltige Bedeutung haben. Dies gilt es zu fördern, denn mit dem entsprechenden Nachweis der positiven Wirkung kann man die Bedeutung der Jugendarbeit auch gegenüber den Kostenträgern und gegenüber der Öffentlichkeit herausstellen. Wirkungsforschung und ihre Ergebnisse können auch herangezogen werden, um die nachhaltige Förderung der Jugendarbeit zu legitimieren. Das wird aber zunehmend zur Gratwanderung. 

Wirkungen werden im Moment ja oft dadurch festgestellt, dass Teilnehmende sich selbst und Jugendarbeiter wiederum die Jugendlichen einschätzen. Kommt man damit weiter, wenn es um die Erweiterung des Nationalen Qualifikationsrahmens um das non-formale Lernen geht?

Verfahren sind langfristig auf Legitimation und Anerkennung durch relevante Stakeholder angewiesen. Verlässliche und ausdrucksvolle Selbsteinschätzungen verlangen ein Mindestmaß an diagnostischer Kompetenz, Selbstreflexion und entsprechende  Vergleichsmaßstäbe. Es wäre schön und hilfreich, wenn dies flächendeckend vorhanden wäre.

Qualifikationsrahmen wie zum Beispiel der "Europäische Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen" (EQR) zielen auf eine umfassende Neujustierung des Verhältnisses von beruflicher Aus- und Weiterbildung und akademischer Bildung. Der EQR beschreibt auf acht Referenzniveaus in operationalisierter Form Lernergebnisse, die Menschen im Prinzip nach einem Lernprozess vorweisen können sollten. Sie beschreiben, was ein Lernender weiß, versteht und in der Lage ist, zu tun. Die damit attestierten Qualifikationen sollen helfen, unterschiedliche Lern- und Bildungswege sowie erreichte Ausbildungs- und Studienabschlüsse europaweit transparent und vergleichbar zu machen. Qualifikationen, die außerhalb formaler Bildung erworben wurden, sollen dabei ebenfalls berücksichtigt werden. Dadurch soll die arbeitsmarktbezogene Mobilität gesteigert werden.

Inwieweit Zertifikate, die erfolgreichen Kompetenzgewinn durch non-formales Lernen bestätigen, beim Jobeinstieg von den Betrieben und Unternehmen entscheidend gewürdigt werden, ist mir noch nicht klar. Wenn aber Jugendliche sich selbst gegenüber sicher sind, dass sie was dazu gelernt haben oder  etwas besser können und wissen als vorher, dann haben non-formale Lernarrangements ihren Zweck auch schon erfüllt.

In Europa gibt es insgesamt sehr wenig Forschung zum Thema "learning mobility". Wird sich das jetzt ändern?

Ein vergleichsweise neues Thema kann keine lange Geschichte haben. Man muss auch betrachten, wie sich Begriffe und Konzepte sowie ihre gesellschaftliche Legitimation und Bedeutungen historisch in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext verändern. Ich habe mit dem Kölner Kollegen Andreas Thimmel vor einigen Jahren eine historische Studie zur internationalen Jugendarbeit erstellt. Dabei haben wir die gesellschaftlichen Legitimationsmuster und Konzepte der internationalen Jugendarbeit in Deutschland aus den letzten 50 Jahren herausgearbeitet: Völkerverständigung, Europa, interkulturelles Lernen,  Diversity. „Learning mobility“ bzw. Mobilität zu Lernzwecken ist nun offensichtlich eine neue oder neu akzentuierte Legitimationsfigur, mit der Viele klarkommen. Das ist ja auch nicht verwunderlich. Wer sollte etwas gegen Lernen haben? Die entscheidende Frage ist doch: Was wird von wem für was gelernt? Welche Lernanlässe werden angeboten?

Es gibt auch die bahnbrechende Langzeitstudie des  Kollegen Prof. Alexander Thomas, die mit anderen Begrifflichkeiten das Feld des non-formalen Lernens erforscht. Zentrale Ergebnisse: Auslandsaufenthalte im Rahmen von Lern- und Bildungssettings führen langfristig und nachhaltig zu

  • Steigerung des Selbstbewusstseins und der sozialen Kompetenzen;
  • Steigerung der interkulturellen Kompetenzen;
  • Steigerung der Fremdsprachenkompetenzen

und haben nachhaltige Bedeutung im Kontext der Gesamtbiographie.

Wie sollten Forscher, Praktiker und Politiker künftig am besten zusammenarbeiten?

Theorie, Praxis und Politik sind wissenschaftlich betrachtet Teilsysteme in unserer Gesellschaft, die jeweils eigenen Logiken folgen und in denen erfolgreiches Handeln zum Teil sehr unterschiedlich definiert sein kann. Das muss man verstehen, um in der Sache weiterzukommen. In diesem Kontext kann es nicht schaden, an die politische Programmatik der vergangenen Jahre zu erinnern:

Der 11. Kinder- und Jugendbericht des Bundes aus dem Jahr 2001 war überschrieben mit dem Titel „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“. Der 12. Kinder- und Jugendbericht von 2005 trug den Titel: „Bildung, Betreuung und Erziehung vor und neben der Schule“. Dieser Bericht hat das Thema Lernen noch deutlicher in der bildungspolitischen und fachlichen Debatte positioniert und Bildung in einen sozialpolitischen Kontext gestellt, indem die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für das Gelingen von Bildungsprozessen  unterstrichen wurde. Im 14.Kinder- und Jugendbericht, der unlängst vorgelegt wurde, heißt es  in der  Stellungnahme der Bunderegierung:

„Ziel der Bundesregierung bleibt es, den Zugang zur internationalen Jugendarbeit zu vereinfachen und internationale Jugendarbeit als non-formales Bildungsangebot deutlicher zu profilieren. Gerade jungen Menschen, die im formalen Bildungssystem nur wenig erfolgreich sind, können Angebote non-formaler Bildung neue Impulse geben.“ 

Und diese Impulse...

...kamen sehr stark und kommen weiterhin mit hohem Innovationspotenzial aus dem  Forscher-Praktiker-Dialog in der internationalen Jugendarbeit. Den gibt es nun schon seit 25 Jahren, und er funktioniert gut. Die rhetorische Unterstützung durch das zuständige Ministerium ist angesichts des europäischen Bedeutungszuwachses des Themas groß, die finanzielle Föderung durch das Ministerium hält da nicht mehr mit. Man könnte eine Schippe drauflegen.

Dabei hat die Erfahrung der letzten 25 Jahre gezeigt, dass der Forscher-Praktiker Dialog mit öffentlichen Mitteln sehr verantwortungsvoll umgegangen ist. Viele Akteure im Umfeld unterstützen ihn ehrenamtlich. Die Zusammenarbeit könnte verbessert werden, wenn um die finanzielle Unterstützung nicht jedes Jahr aufs Neue kleinteilig gerungen werden müsste. Eine Projektförderung von – sagen wir – drei Jahren, verbunden mit einer Zielvereinbarung, in der steht, was in den drei Jahren zu tun und anzustreben ist, würde sicherlich weitere Energie und Innovationspotenzial freisetzen. Da hätten dann alle was von.

Braucht die Forschung zusätzliches Geld?

Natürlich braucht Forschung Ressourcen. Forschung braucht auch ein förderliches und anerkennendes Umfeld und in sozialwissenschaftlicher Perspektive auch ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Freiheit, wie es in Artikel 5 im Grundgesetz heißt. Forschung muss also auch in den Blick nehmen, welches Wissen von wem in der Gesellschaft zu welchem Zweck verwendet wird. Unsere Form von Forschung hat es schwer, an Geld zu kommen und ist weitgehend auf die Eigeninitiative der Forscher angewiesen. Auftragsforschung, Evaluationsstudien, Praxis-Begleitforschung haben es da sicherlich etwas einfacher, sind aber nicht immer frei in der Verwendung ihrer Ergebnisse.       

Ist das Thema "interkulturelles Lernen" nicht eigentlich schon genügend beleuchtet, definiert und mit hervorragenden Methoden ausgestattet - zumindest beim nicht- formalen Lernen? Müssen nicht eher die Erasmus-Studenten noch lernen, interkulturell zu lernen?

Das Thema interkulturelles Lernen steht seit den 1970er Jahren ganz oben auf der Tagesordnung im Sozial- und Bildungsbereich. Dies wird immer getragen von der Einsicht: Wir müssen die Menschen auf das Leben und Handeln in einer viel-kulturellen Gesellschaft  einstellen und dazu bedarf es bestimmter Kompetenzen in den Dimensionen Wissen, Können und Einstellungen. Man darf aber nicht übersehen, dass interkulturelle Kompetenz für deutsche Rentner in Duisburg etwas anderes bedeutet als für einen spanischen Studenten, der  für einen überschaubaren Zeitrahmen im Ausland studiert. Da sind die persönlichen Anforderungen schon deutlich verschieden. Meine Erfahrung mit Studierenden, die mit Erasmus im Ausland waren, zeigt deutlich, dass der Zugewinn an interkultureller Kompetenz den Zugewinn an fachlichem Wissen oft übersteigt – jedenfalls in der Selbsteinschätzung der Studierenden. Das hat übrigens Prof. Alexander Thomas mit seinem Team in einer  Forschungsarbeit auch belegt und mit dem Titel „ Erlebnisse, die verändern“ zum Ausdruck gebracht.

Was erwarten Sie von der EPLM-Plattform in fünf Jahren?

Es geht jetzt um den langen Atem der handelnden Personen. Alle Beteiligten müssen erkennen, dass sie von einem solchen Netzwerk profitieren können. Das gilt für Forschung, Politik und Praxis. Da müssen Interessen ausbalanciert werden. Das erfordert behutsames Handeln auf gleicher Augenhöhe. Die  Konferenz hat diesbezüglich gezeigt, dass es funktionieren kann. Wir haben dort zu Recht viel über die Notwendigkeit von „context awarness“ gesprochen. Diese steht aus meiner Sicht in gewisser Spannung zu den gerne präsentierten „best-practice-Bespielen“. Man kann nicht eine Idee, eine Organisation oder ein Projekt  bruchlos in einen anderen Kontext verpflanzen. Die Initiatoren der EPLM-Plattform wollten die Grundidee des deutschen Forscher-Praktiker-Dialogs auf die europäische Bühne heben. Das ist gelungen. Jetzt kann es nur weitergehen, wenn viele europäische Akteure mitmachen – mit viel interkultureller Kompetenz und soliden Ressourcen. 2015 wird die Konferenz wahrscheinlich in Frankreich stattfinden, 2017 dann vielleicht in einem  der krisengeschüttelten Länder Europas. Damit könnte auch das Thema „learning mobility“ anders, nämlich weniger bildungspolitisch als sozialpolitisch akzentuiert werden.

(Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa)

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