05.08.2006

Schlüsselqualifikationen en masse

So recht schien er doch nicht gewusst zu haben, warum er nach Bonn eingeladen worden war, um über seine Erfahrungen als Europäischer Freiwilliger zu berichten. In lässiger Körperhaltung saß der 23-jährige Thomas alleine in einem der Foyer-Sessel und lauschte den internationalen Gesprächen, die quer durch die Halle des CJD Bonns einen Hauch von europäischem Geist versprühten.

Als ehemaliger Schüler mit erweitertem Hauptschulabschluss und als soeben heimgekehrter Absolvent des Europäischen Freiwilligendienstes im griechischen Serres war Thomas so etwas wie ein Aushängeschild für eine Zielgruppe, die "JUGEND für Europa" seit dem Frühjahr 2006 stärker als bisher fördern will - die so genannten "Zugangsbenachteiligten": Ob Haupt-, Real- oder Berufsschüler, Schulabbrecher oder Arbeitslose - sie alle sollen künftig verstärkt für den Europäischen Freiwilligendienst gewonnen werden.

In Deutschland sind bislang rund 90 Prozent der Teilnehmer weibliche Jugendliche. Fast alle von ihnen verfügen über Abitur und sind dementsprechend gut gebildet. In vielen europäischen Ländern sieht es meist nicht anders aus. Doch auch das Ausland reagiert. Aufnahme- und Entsendeorganisationen von Freiwilligen wollen in Zukunft intensiver mit "Zugangsbenachteiligten" arbeiten.

13 Länder, 26 Köpfe

Unter dem Motto "European Voluntary Service - Free4All" hatte "JUGEND für Europa" Ende Mai zum mehrtägigen Gedankenaustausch nach Bonn eingeladen. Gekommen waren 26 Vertreter sozialer Organisationen aus insgesamt 13 Ländern - von Frankreich bis Griechenland, von Norwegen bis Spanien. "Hätten wir mehr Plätze gehabt, hätten wir noch deutlich mehr Bewerber einladen können", beschreibt Heike Hornig die positive Resonanz. Die Vorsitzende des Erlebnispädagogik-Vereins "Outdoor in Movement International" (OiMi) hatte das Netzwerk-Treffen mit ihren Kollegen im Auftrag von "JUGEND für Europa" durchgeführt. Dass der Umgang mit "Zugangsbenachteiligten" im Freiwilligendienst auf europäischer Ebene noch in den Kinderschuhen steckt, zeigten schon mühsame Begriffsannäherungen zu Beginn des Seminars. "Wir mussten erst einmal klären, wen mir mit 'benachteiligt' überhaupt meinen. Ein dreigliedriges Schulsystem wie in Deutschland mit Haupt-, Realschulen und Gymnasien gibt es beispielsweise nicht in allen europäischen Ländern", so Hornig.

Zunächst: Jugendbegegnung für benachteiligte Jugendliche

Für Hubert Wellhäuser, Sozialarbeiter im Diasporahaus Bietenhausen in Baden-Württemberg, ist das vermehrte Engagement für Jugendliche ohne Abitur ein Schritt in die richtige Richtung: "Ich habe hier in Bonn ausländische Kollegen getroffen, die gewillt sind, diese jungen Leute für Europa zu begeistern. Das ist phantastisch, weil ich weiß, man braucht dabei einen langen Atem. Um Hauptschüler zu überzeugen, mal für längere Zeit ins Ausland zu gehen, ist harte Motivationsarbeit gefragt."

Gemeinsam mit Kollegen aus Norwegen, Schweden, Dänemark und Griechenland will Wellhäuser im Frühjahr 2007 eine Jugendbegegnung für benachteiligte Jugendliche durchführen, um sie dann auf den Europäischen Freiwilligendienst vorzubereiten. "Für viele Jugendliche ist es möglicherweise die erste internationale Erfahrung. Sie sind vielleicht das erste Mal weg von zu Hause. Eine Gruppe gibt da zunächst mal Sicherheit. Vor allen Dingen merken sie dann: Ich bin nicht alleine."

Im Projektteam mit dabei ist auch der Däne David Saturnin-Mézière. In seiner Konzertagentur "Gimle" in Roskilde werden jedes Jahr vier Europäische Freiwillige aufgenommen, einer davon aus Deutschland. Saturnin-Mézière hat keinen Zweifel daran, dass auch Jugendliche mit geringeren Qualifikationen eine Bereicherung für sein Haus darstellen würden. Bewegung gibt es auch auf dem deutsch-österreichischen Markt. So wollen Manuela Dillenz von "In Via Würzburg" und Carmen Köck vom "CMB - St. Elisabeth" in Linz sich künftig gegenseitig benachteiligte Jugendliche "zusenden".

Die erst 20-jährige Ungarin Dora Kovacs aus Budapest reiste im Auftrag der Jugendorganisation "Pontus iuventae" (Brücke der Jugend) nach Bonn. "Als ich hierher kam, hatte ich noch nie etwas vom Europäischen Freiwilligendienst gehört. Jetzt wollen wir auch bei benachteiligten Jugendlichen fürs Ausland werben. Bei Studenten ist das nicht so nötig. Die wissen meist selbst, wo sie die entsprechenden Informationen bekommen." Dass Dora überlegt, jetzt erst einmal selbst als Freiwillige ins Ausland zu gehen, hat vor allem ihre jüngeren männlichen Kollegen begeistert.

Es braucht funktionierende Netzwerke

Konkrete Erfahrungen mit dem Europäischen Freiwilligendienst für Jugendliche ohne höheren Schulabschluss machte bereits die Jugendakademie Walberberg in der Nähe von Köln. Seit 1. Januar 2006 bemüht sich Silke Dust darum, benachteiligte Jugendliche für einen Aufenthalt im Ausland zu begeistern und entsprechende Kooperationspartner zu gewinnen. Gute Kontakte existieren bereits nach Polen, Portugal, Schweden, Bosnien - und Irland. Dorthin soll Anfang September der erste Realschüler entsandt werden.

Umgekehrt konnte Projektleiterin Dust auf deutscher Seite bereits zehn Partnerorganisationen gewinnen, die entsprechende Freiwillige aus dem Ausland aufnehmen würden, darunter mehrere Jugendfarmen und -zentren, Kindergärten und eine Jugendbildungsstätte. Fehlen nur noch die Freiwilligen, denn "noch ist nicht klar, ob und wann wir zehn Kandidaten überhaupt zusammen bekommen", so Dust. "Zwar hat die EU in letzter Zeit verstärkt ihr Interesse an einer Förderung dieser Jugendlichen bekundet - um verlässliche Strukturen und funktionierende Netzwerke zu schaffen, sind aber andere Zeiträume vonnöten."

Läuft alles nach Plan, werden im Herbst dieses Jahres mit Ermin Begovic und Amel Bilajac erstmals zwei Hauptschüler aus Bosnien ihren Freiwilligendienst in Deutschland antreten. Die beiden 20-Jährigen waren nach ihrer Ausbildung in der Arbeitslosigkeit gelandet und hatten 2004 an einer deutsch-bosnischen Jugendbegegnung teilgenommen. Eine erste Sensibilisierung - und der Grundstein für das große Auslandsprojekt. Ihre Aufenthalte in der Jugendakademie Walberberg beziehungsweise in der Jugendbildungsstätte Wittbräucke könnten ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt jedenfalls deutlich erhöhen.

"Die Jugendlichen erwerben wichtige Schlüsselqualifikationen und Fremdsprachenkenntnisse. Zudem erfahren sie Wertschätzung und Anerkennung. Ihr Selbstbewusstsein wächst", sagt Dust. An Tätigkeitsfeldern für Jugendliche ohne Abitur mangelt es wohl nicht. "Die meisten sind handwerklich interessiert und begabt oder wollen was mit Kindern machen. In Büros werden sie jedenfalls nicht geschickt." Zunächst bis Ende des Jahres wird die Europa-für-alle-Initiative der Jugendakademie Walberberg gefördert. Eine Evaluation soll zeigen, wie es mit dem Projekt dann weitergeht.

Nächstes Strategietreffen im November

In den Büros von "JUGEND für Europa" wird unterdessen weiter überlegt, mit welchen Mitteln Jugendliche ohne Abitur in den Freiwilligendienst integriert werden können. Gemeinsam mit Vertretern anderer Organisationen hatte sich im März eine Strategiegruppe unter der Leitung von Guido Kaesbach und Karin Schulz konstituiert. An guten Ideen fehlt es nicht. So sollen beispielsweise die Kontakte mit Berufsschulen ausgebaut, Berufsberater fortgebildet oder Ausbildungsbetriebe künftig stärker angesprochen werden. Neben der intensiveren Vernetzung von Jugendinformationszentren wird auch den EuroPeers künftig eine wichtige Funktion zugedacht. "Als ehemalige und aktuelle Freiwillige können sie die Jugendlichen, die wir im Blick haben, am besten begeistern", so Kaesbach. Anfang November will die Strategiegruppe in Stuttgart den Dialog mit Experten und Praktikern fortsetzen.

Thomas jedenfalls hat es zuvor bereits ohne weitreichende Strategie geschafft. Der ehemalige Dortmunder Hauptschüler hatte seinerzeit einfach in die Zeitung geschaut und vom Europäischen Freiwilligendienst erfahren. Mit der Auslandsgesellschaft Nordrhein-Westfalen hatte er seine Entsendeorganisation gefunden. Der sechsmonatige Aufenthalt in Griechenland hielt für Thomas jedenfalls das, was er versprach. Er hat sie jetzt, diese Schlüsselqualifikationen, von denen sie immer alle sprechen. (Marco Heuer)

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