04.07.2018

Freiraum für zivilgesellschaftliches Engagement schwindet – dagegen hilft nur: gemeinsames Engagement

Füße der Teilnehmenden und daneben liegen Buchstaben, die das Wort Participation bilden"Shrinking spaces" – die Freiräume für gesellschaftliche Teilhabe und Engagement werden immer mehr eingeschränkt – in Deutschland wie in der Türkei wie in anderen Ländern. Wir müssen diese Probleme gemeinsam angehen, so ein wichtiges Fazit der Konferenz "Different Views, New Narratives", die vom 25. bis 28. Juni in Berlin stattfand.

Verstärkte Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen, verschärfte Polizeigesetze, monströse Datenspeicherung auf der einen Seite, fehlende Anerkennung für bestimmte Formen der Partizipation und des Engagements auf der anderen Seite – all dies macht es schwerer, öffentlich für die eigenen oder gemeinnützige Interessen einzutreten. Für Jugendliche kommt häufig noch eine weitere Hürde dazu: Sie müssen sich erst einmal ein gewisses "Standing" verschaffen, bevor sie gehört werden.

"Zunächst einmal geht es darum, als Jugendlicher in seinen Gedanken und Handlungen akzeptiert zu werden – von anderen und vor allem von den Erwachsenen", so Professorin Demet Lüküslü auf der Konferenz "Different Views, New Narratives". Sie hat die EU-geförderte Teilhabestudie "Partispace" durchgeführt.

"Doch nicht alle Formen der Teilhabe Jugendlicher an der Gesellschaft sind von den Erwachsenen auch als solche anerkannt. Zum Beispiel ist ‘Chillen' in der Öffentlichkeit‘ ja auch eine Form von Teilhabe. Erwachsene sehen es aber lieber, wenn Kinder und Jugendliche in einem Sportverein oder einem Jugendclub aktiv sind", so Lüküslü weiter, "diese enge Perspektive von Teilhabe muss überwunden werden."

"Leben, ohne sich aktiv gesellschaftlich zu engagieren, ist bigott"

Beybin Elvin Tunc, Konferenzteilnehmerin, arbeitet in einem Kinder- und Familienzentrum in Izmir, Türkei. Sie unterstützt geflüchtete Kinder und Jugendliche aus Syrien. "Die Situation ist nicht einfach. Die türkische Gesellschaft hat eine sehr negative Einstellung gegenüber den Geflüchteten. Vor allem durch Medien und politische Diskurse wurden Geflüchtete zum neuen Sündenbock", erklärt Tunc. Sie zeichnet damit ein ähnliches Bild für die Türkei, wie wir es auch seit einigen Jahren in Deutschland erleben.

Ihrer Meinung nach sollten wir solidarisch mit den Geflüchteten sein, da wir viel gemeinsam haben. "Ich glaube, um ein aktiver Bürger zu sein, ist es wichtig, die politische Wut dahin zu lenken, wo sie herkommt. Besonders nach den Gezi-Park-Protesten wurde das Engagement Jugendlicher in der Türkei zum Schweigen gebracht. Auf diese Weise zu leben, ohne aktiv zu sein in der Gesellschaft, ist bigott für mich", so Tunc weiter.

"Ich liebe mein Land mit allen Farben und allen Herausforderungen, aber ich bin mir nicht sicher, ob mein Land mich noch liebt, noch schlimmer ist, dass ich mich nicht mehr gewollt fühle. Durch die Geschichte starben Menschen in diesem Land, um einen öffentlichen Raum zu schaffen, um das bürgerschaftliche Engagement zu schützen. Wenn ich ein bigottes Leben führen soll, dann muss ich es wohl tun, aber das funktioniert nur, weil ich die Hoffnung nicht aufgebe."

Aus Sicht Tuncs sind die Jugendlichen in der Türkei die einzigen, die für mehr Freiräume eintreten können und müssen – wenn nötig, in kleinen Schritten und auf subversive Art und Weise.

Auch Erasmus+ JUGEND IN AKTION könnte partizipativer angelegt sein

Für Kaya Berk von der "Community Volunteers Foundation" in der Türkei stellt es sich häufig so dar, dass sein Engagement als Jugendlicher inhaltlich sehr stark von Entscheidungsträgern und Organisatoren beeinflusst wird. "Das größte Hindernis für mein zivilgesellschaftliches Engagement im Jugendverein ist, wenn die Organisatoren die Resultate, die die Jugendarbeit bringen soll, mit ihren eigenen Erfahrungen vermischen, wenn sie nicht akzeptieren, dass sich die Zeiten geändert haben und dass die Jugendlichen heutzutage anders handeln, als sie es getan haben."

Aber da stecken die Organisatoren und Jugendleiter manchmal selbst nicht drin und sind durch bürokratische Rahmenbedingungen gehindert, Jugendliche einfach mal machen zu lassen. Wenn es um das Engagement Jugendlicher bei internationalen Begegnungen im Rahmen von Erasmus+ JUGEND IN AKTION geht, sieht Christa Berta Kimmich von der "European Play Work Association" große Defizite.

Sobald Jugendliche sich über eine bloße Teilnahme hinaus in die Gestaltung der Begegnung einbringen wollen, stoßen sie auf Widerstand. Nicht nur, dass es dem Format der Jugendinitiativen im aktuellen Programm wesentlich schwerer gemacht werde gegenüber dem Vorgängerprogramm, kritisiert sie. "Auch ist das ganze Antragsverfahren nicht dafür gemacht, Jugendliche einzubinden", so Kimmich, und meint damit nicht nur den Umfang eines Förderantrages, sondern auch die teilweise schwer verständlichen Fragestellungen, die man nur mit einer gewissen Erfahrung beantworten könne.

Plädoyer: Bestehende Freiräume nutzen, schützen und erweitern

Am Ende herrscht Einigkeit darüber, dass gerade weil Freiräume schwinden, man die Möglichkeiten für Partizipation und zivilgesellschaftliche Engagement unbedingt nutzen muss, um die bisherigen Errungenschaften für die gesellschaftliche Teilhabe zu erhalten und voranzutreiben. Für die Jugendarbeit ist und bleibt Erasmus+ JUGEND IN AKTION dabei, trotz Schwierigkeiten bei Antragstellung und Abwicklung, das wichtiges Instrument, um europaweit miteinander in Kontakt zu treten und gemeinsam Probleme anzugehen.

Und in noch einem Punkt herrscht Einigkeit: Weder Deutschland noch die Türkei noch ein anderes EU- oder europäisches Land steht allein da, wenn es um Radikalisierung, nationale Abschottung und Einschränkung der zivilgesellschaftlichen Freiheiten geht. Diese Probleme betreffen alle. Und dementsprechend sollten sie gemeinsam, im internationalen Austausch angegangen werden.

(Babette Pohle für JUGEND für Europa)

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Weiterführende Informationen

Die Veranstaltung "Different Views, New Narratives" wurde organisiert von der Deutsch-Türkischen Jugendbrücke, JUGEND für Europa, der Türkischen Nationalen Agentur Erasmus+ sowie von der Fachstelle für Internationale Jugendarbeit (IJAB e.V.).

Link zur Teilhabestudie Partispace unter http://partispace.eu/

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