29.01.2008

Vom grenzübergreifenden Multi-Kulti-Kindergarten zum europäischen Schulfach Weltreligionen

Marco Heuer sprach mit Sascha Meinert, dem Leiter des Berliner Instituts für prospektive Analysen und Veranstalter des Zukunftskongresses "Chance Europa 2020" über inhaltliche Ergebnisse der Veranstaltung, die Bedeutung von Szenarien für Jugendliche und ihren Beitrag zum Strukturierten Dialog. 

Herr Meinert, 120 Jugendliche aus acht europäischen Ländern haben vier Tage lang das FEZ Berlin, das größte Kinder-, Jugend- und Familienzentrum in Europa, in einen „Think Tank“ mutiger Visionen verwandelten. Auf dem Zukunftskongress haben sie an den Entwürfen und Forderungskatalogen für ihr Wunsch-Europa gefeilt. Welche Visionen stehen für die Jugendlichen im Jahr 2020 hoch im Kurs?

Die Fülle und Vielfalt der Forderungen ist beachtlich. Ob eine soziale Grundsicherung, eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung für alle oder der Wunsch, ein einheitliches europäisches Bildungssystem zu entwickeln – die Jugendlichen haben kein Themenfeld außen vorgelassen. Beeindruckend sind vor allem die konkreten Ideen. So soll der Multi-Kulti-Kindergarten auf europäischer Ebene ebenso eingeführt werden wie das Unterrichtsfach „Weltreligionen“ – ein Versuch, die anderen Religionen besser zu verstehen und Vorurteile abzubauen. Eine Arbeitsgruppe wollte „Europa“ als Querschnittsfach im Unterricht etablieren. Eine andere hat sich für die engere Verzahnung zwischen Schulbildung und beruflicher Qualifikation stark gemacht. Mit einer deutlichen Forderung: die Einführung europäischer Praktika ab der achten Jahrgangsstufe.

Viele wollen zudem mehr Chancen, den eigenen Lebensentwurf selbst in die Hand zu nehmen. Das klappt nur, wenn ihnen die Politik mehr Freiheiten zugesteht. Hindernisse bei der Freizügigkeit müssen beseitigt, die Integration in anderen EU-Ländern muss verbessert und europäische Erwerbsbiographien müssen möglich werden.

Die Jugendlichen verstehen Gemeinsinn und mehr Eigenverantwortung nicht als Gegensätze – für sie sind es komplementäre Elemente eines „besseren Europas“. Gefordert wird ein Europa, das mehr Integration „von unten“ braucht. Dies betrifft sowohl den unmittelbaren Austausch als auch mehr gegenseitige Offenheit. Das im Reformvertrag von Lissabon vorgesehene Bürgerbegehren hat die Phantasie der Jugendlichen jedenfalls stark beflügelt. Für mich ein deutliches Zeichen: Die jungen Menschen in der EU wollen durchaus mehr in der Politik „mitmischen“, sie wissen oft nur nicht wie.

Während des Zukunftskongresses wurden in den einzelnen Workshop-Gruppen so genannte Szenarien erarbeitet. Was ist das Besondere an diesem Ansatz? Wo liegt die Herausforderung für die Jugendlichen?

Szenarien schaffen ein Gespür für den größeren Kontext und fördern das Denken in Zusammenhängen. Dabei sollen Szenarien nicht die Zukunft voraussagen, sondern mögliche Zukunftsalternativen identifizieren sowie die Bereitschaft und Fähigkeit erhöhen, Verände­rungen heute aktiv mitzugestalten.

Zudem fördert das Denken in langen Zeiträumen die Übernahme von Verantwortung. Viele politische Debatten drehen sich um die „Schuldfrage“ – die Frage, wer oder was für diese oder jene Missstände die Verantwortung trägt. Beschäftigt man sich dagegen mit der Zukunft, geht es mehr um künftige Veränderungen und Möglichkeiten ihrer Gestaltung. Eine Herausforderung liegt darin, dass es immer mehrere Szenarien gibt. Die Teilnehmenden müssen sich darüber verständigen, was sie von der Zukunft erwarten, und darüber, was wirklich wichtig ist. Da es sich um einen offenen Lernprozess handelt, gibt es kein Richtig oder Falsch – eine besondere Herausforderung für Jugendliche, die es gewohnt sind, dass der Lehrer immer die „richtige Lösung“ schon in der Schublade hat.

Trotzdem entwickeln Sie die Szenarien nach einer bestimmten Dramaturgie?

Natürlich ja. Es ist ein strukturierter Lernprozess, der die Sensibilität und Vorstellungskraft für zukünftige Entwicklungen und Veränderungen stärken soll. Die Szenario-Methode liefert die didaktischen Werkzeuge. Gelernt wird in spielerischer Form. Kommunikative Fähigkeiten und Kreativität werden gefördert.

Ähnlich wie bei Planspielen entwickeln die Teil­nehmenden eine hohe Motivation. Schließlich sind sie die Autoren der Ergebnisse, die am Ende stehen.

Natürlich haben auch unsere Jugendlichen Forderungen „an die Politik“ formuliert, aber es waren keine passiven Szenarien, wie junge Leute sie manchmal gerne entwickeln – also solche, bei denen irgendwelche Politiker nur die richtigen Entscheidungen treffen müssen, damit wir dann sagen können: Jetzt wird alles gut.

Nein, in den Szenarien des Zukunftskongresses wächst Europa auch von unten zusammen, und eine Botschaft wird ganz deutlich: Jeder kann daran mitwirken.

Ihre Jung-Europäer hatten die Aufgabe, so genannte Erfolgsszenarien zu formulieren. Werden bei so einer Aufgabenstellung auch die Ängste von Jugendlichen ernst genommen, die sich das Europa der Zukunft nicht so rosig vorstellen?

Auf jeden Fall. Die Ängste und Problemwahrnehmungen der Jugendlichen werden nicht nur ernst genommen, sie waren Ausgangspunkt für das Nachdenken über die Entwicklungen der nächsten zwölf Jahre. Wir haben die Teilnehmenden gefragt: Wo seht Ihr die Herausforderungen und Probleme, für die Ihr auch von der Europäischen Union tragfähige Lösungen erwartet? Was muss passieren, damit Ihr von einem „messbaren Erfolg“ im Jahr 2020 sprechen könnt? Der Weg dorthin ist natürlich nicht gradlinig, er ist steinig und mit Hindernissen gepflastert. Das macht aber die besondere Denkleistung aus. Die Jugendlichen mussten überlegen: Was kann und muss getan werden, um diese Hindernisse zu überwinden? Wir haben also kein „Schlaraffenland-Szenario“ entworfen, sondern überlegt, welche zentralen Hebel gebraucht werden, um schwierige Klippen zu umschiffen und den zuvor definierten Erfolg zu erreichen.

Für die praktische Umsetzung der Szenarios haben Sie eigens mit Medienteamern gearbeitet. Profis aus den Bereichen Film, Foto, Radio, Rap oder Comic/Illustration haben den Jugendlichen Ihr Know-How zur Verfügung gestellt. Warum diese große Bandbreite an Medien?

Die mediale Umsetzung in verschiedenen Formaten macht die Aussagen und Forderungen der Teilnehmenden in einer jugendgerechten Weise kommunizierbar. Wir hoffen, dass die Ergebnisse des Zukunftskongresses nicht nur die politischen Akteure erreichen, sondern auch viele weitere Jugendliche für die Themen sensibilisieren, die sie unmittelbar betreffen. Sie sollen einen Anreiz bekommen, sich selbst aktiv einzubringen.

Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden?

Uneingeschränkt ja. Es ist schon spannend zu sehen, wie junge Leute aus unterschiedlichen Ländern zusammen kommen und in nur vier Tagen so viel gemeinsam auf die Beine stellen – und das trotz mancher Sprachbarrieren. Ob Rap-Song, Film oder Karikaturen – die Beiträge sind ein authentischer Ausdruck europäischer Begegnung.

Insbesondere werden hier die Toleranz und der gegenseitige Respekt sichtbar, den sich die Jugendlichen in den Tagen des Zukunftskongresses „erarbeitet“ haben.

Besonders beeindruckt haben mich die Beiträge, die mutige Visionen für die künftigen Systeme des sozialen Zusammenhalts innerhalb und zwischen den europäischen Gesellschaften entworfen haben, wie zum Beispiel in dem Song „ProFuture“ oder „Care07“. Der Kurzfilm „EuropaScrabble“ steht für das europäische Miteinander auf gleicher Augenhöhe.

An dem Zukunftskongress in Berlin nahmen – anders als beim Jugendevent in Köln – weniger die "Berufsjugendlichen" und damit die Eliten, sondern "ganz gewöhnliche" junge Menschen teil. Haben Sie ein jugendpolitisches Zeichen setzen wollen?

Man darf das nicht gegeneinander ausspielen. Veranstaltungen wie der offizielle Jugendevent der Deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Köln oder der Jugendgipfel anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Römischen Verträge im März 2007 in Rom sind wichtig. Die jungen Leute, die sich schon früh in Parteien, Jugendverbänden und anderen Organisationen der Zivilgesellschaft engagieren, werden auch in späteren Lebensabschnitten Einfluss auf die Konturen von Politik und Gesellschaft nehmen und das Europa von morgen prägen.

Aber um die Bedürfnisse von Jugendlichen in der Europäischen Union zu verstehen und sie selbst zu Wort kommen zu lassen, brauchen wir mehr Projekte, die eine Plattform für „normale Jugendliche“ bieten. Auch sie sollen die Möglichkeit haben, ihre Anliegen in ihrer eigenen Sprache in die Debatte um eine gemeinsame europäische Jugendpolitik einzubringen. Wir sprechen hier von 95 Prozent der Jugendlichen – das sind diejenigen, die sich nicht so gut mit den Institutionen und den Entscheidungsprozessen der EU und schon gar nicht mit den Dokumenten des Europäischen Pakts für die Jugend oder des Strukturierten Dialogs auskennen. Gleichwohl haben sie sehr klare Erwartungen an die Politik und können die Probleme, die sie in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld wahrnehmen, sehr wohl benennen. Wir wollen sie jedenfalls mit derartigen Projekten ermutigen, ihren Anliegen selbst eine Stimme zu geben.

Ihr Haus, das Institut für prospektive Analysen e.V., hat mit dem Kreativwettbewerb und dem Zukunftskongress einen wichtigen Beitrag für den "Strukturierten Dialog" geleistet. Welche Reaktion erwarten Sie jetzt von Seiten der Politik?

Ich wünsche mir verlässliche und zeitnahe Aussagen. Einen Tag nach dem Zukunftskongress schrieb einer der eher skeptischen Jugendlichen folgenden Beitrag in das Internet-Forum von CHANCE EUROPA 2020: „Was passiert mit unseren Beiträgen? [...] Werden die Politiker mit mehr reagieren als mit JaJaJa und scheinbarer Zustimmung. Naja, ich hatte wohl zu hohe Erwartungen, aber es war trotzdem eine sehr gute Erfahrung.“

Die Jugendlichen, die sich aktiv an dem Projekt beteiligt haben, haben ihre Vorstellungen einer gelungenen Jugendpolitik formuliert. Vieles davon ließe sich durchaus bis zum Jahr 2020 verwirklichen, einiges wahrscheinlich nicht, und manches will man vielleicht auch gar nicht umsetzen. Darum ist ein ehrliches Feedback erforderlich, das über die Abschlussdiskussion der Veranstaltung hinausgeht. Politisches Engagement lebt von Resonanz. Auf dem Zukunftskongress gab es gemeinsame Zukunftsvorstellungen, manche Fragen wurden aber auch sehr kontrovers diskutiert – ein europäischer Mikrokosmos eben und genauso wie in der „wirklichen Politik“.

Unsere 120 Jugendlichen haben ihren Beitrag zum Strukturierten Dialog geleistet. Jetzt kommt es darauf an, dass die politischen Akteure den Ball auch aufnehmen. Denn zum Dialog gehören immer mindestens zwei Seiten. Und: Es ist sehr wichtig, dass solche Projekte eine aufrichtige Resonanz erfahren. Nur wenn Vertrauen besteht, nur wenn der einzelne merkt, dass er durch sein Engagement auch etwas bewegen kann, wird der Strukturierte Dialog gelingen. Jugendliche haben sehr sensible Antennen. Aber, wir dürfen auch nicht vergessen: Der Strukturierte Dialog ist noch ein junges Pflänzchen.

Eines sollte an dieser Stelle aber auch nicht vergessen werden. Die Forderungen der Jugendlichen richten sich nicht nur an die europäische Ebene und die Mitgliedstaaten. Gefordert sind ebenso die Akteure der lokalen Ebene, Unternehmen, Initiativen zivilgesellschaftlichen Engagements und die Jugendlichen selbst. Denn, wie lautete noch das Motto der Deutschen EU-Ratspräsidentschaft? – „Europa gelingt gemeinsam“.

(Interview: Marco Heuer)

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Sämtliche Beiträge des Zukunftskongresses sowie weitere Hintergründe finden Sie unter www.europa-2020.eu. Nähere Informationen zum Berliner Institut für prospektive Analysen gibt es unter www.ipa-netzwerk.de. Die Veranstaltung wurde unter anderem finanziert über das EU-Programm JUGEND IN AKTION.

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