12.07.2022

Erasmus+ 2014-2020: großes Bewusstsein und Engagement für Inklusion und Vielfalt

BerichtDas RAY-Netzwerk hat seine transnationale Analyse der Umfrageergebnisse von 2014 bis 2020 mit Teilnehmenden und Leitenden von Erasmus+ JUGEND IN AKTION-Projekten in einem vergleichenden Forschungsbericht zusammengefasst. JUGEND für Europa hat die Aussagen zu den Wirkungen und Ergebnissen in vier der untersuchten Schwerpunktthemen genauer unter die Lupe genommen. Den Auftakt macht ein Beitrag zu Inklusion.

Inklusive Ansätze und die Einbeziehung von jungen Menschen, die sich im Vergleich zu Gleichaltrigen geringeren Teilhabe- und Bildungschancen gegenübersehen, also „jungen Menschen mit geringeren Chancen“, haben in den EU-Jugendprogrammen einen hohen Stellenwert. Dass die Programmpriorität Inklusion & Vielfalt in Erasmus+-Projekten im Jugendbereich tatsächlich umgesetzt und mit Leben gefüllt wird, zeigen die Daten der RAY-MON Studie zu Wirkungen und Ergebnissen des EU-Programms Erasmus+ JUGEND IN AKTION (2014-2020).

So bejahten mit 61 Prozent über die Hälfte der für die Studie befragten Teilnehmenden an Programmformaten für Fachkräfte, dass sie mit jungen Menschen mit geringeren Chancen arbeiten. Dies zeigt, dass Erasmus+ tatsächlich von Fachkräften und Organisationen genutzt wird, die inklusive Ansätze verfolgen. Dementsprechend erklärte auch eine deutliche Mehrheit von 65 Prozent der für die Studie befragten Projektleitenden von Jugendbegegnungen, dem Europäischen Freiwilligendienst oder Projekten des EU-Jugenddialogs bzw. Strukturierten Dialogs, dass junge Menschen mit geringeren Chancen an ihren Projekten beteiligt waren. Dabei sind geographische Unterschiede zu verzeichnen, wobei Deutschland sich im oberen Mittelfeld bewegt.

Junge Menschen stehen vor Hürden – meiden jedoch Kategorisierungen

Tatsächlich gaben 64 Prozent der für die Studie befragten Projektteilnehmenden an, sich im Leben mindestens einer Zugangshürde gegenüberzusehen. Mit 61 Prozent (in Deutschland: 45 Prozent) am häufigsten genannt wurden dabei Hürden beim Zugang zum Arbeitsmarkt, gefolgt von aktiver Teilhabe an Gesellschaft und Politik (36 Prozent), dem Zugang zu Mobilität (31 Prozent) und zu Bildung (27 Prozent). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Herausforderungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt nicht untypisch für die Phase des Übergangs vom Jugend- ins Erwachsenenalter sind.

Auffällig ist, dass es bei der Angabe, welchen konkreten Hürden die Projektteilnehmenden gegenüberstehen, große Unterschiede in der Selbsteinschätzung der Teilnehmenden und der durch die Projektleitenden gibt: So maßen letztere den meisten Hürden höhere Bedeutung bei als die Projektteilnehmenden selbst: Mangelnde finanzielle Ressourcen wurden zwar von beiden Gruppen am häufigsten als Hürde genannt, dies jedoch von 64 Prozent der Projektleitenden gegenüber 48 Prozent der Teilnehmenden. Ähnlich verhält es sich mit anderen Hürden: So wurde der soziale Hintergrund von Projektleitenden deutlich häufiger (39 Prozent) genannt als von Teilnehmenden (12 Prozent), genauso wie die Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe (38 gegenüber 9 Prozent), das Leben in einer abgelegenen Gegend (45 gegenüber 17 Prozent) oder ein geringes Bildungsniveau (31 gegenüber 12 Prozent).

Die Autor*innen liefern hierfür keinen Erklärungsansatz, empfehlen aber weitere Untersuchungen. Es liegt allerdings nahe, dass es jungen Menschen widerstrebt, sich Kategorien wie „sozial oder bildungsbenachteiligt“ zuzuordnen, selbst wenn sie sich im Leben Hürden gegenübersehen. Das passt auch dazu, wie die befragten Projektteilnehmenden ihre eigenen Chancen und Möglichkeiten im Vergleich zu Gleichaltrigen aus dem eigenen Land (Peers) einschätzten: So gaben über drei Viertel an, sie haben gleiche (55 Prozent) oder gar bessere (21 Prozent) Chancen („fair share of opportunities“) im Vergleich zur ihren Peers und nur 18 Prozent erklärten, sie haben etwas weniger, 6 Prozent sie haben viel weniger Chancen. Allerdings ist die Frage nach den eigenen Chancen im Vergleich zu Gleichaltrigen gerade für junge Menschen sicher nicht einfach zu beantworten, zumal in der Befragung nicht genauer definiert war, was „fair share of opportunities“ genau bedeutet. Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass insgesamt vor allem junge Menschen mit abgeschlossener Schul- oder Hochschulbildung an den Befragungen für die RAY MON Studie teilgenommen haben, die üblicherweise nicht zu den Menschen mit den schwierigsten Startbedingungen gehören.

Inklusion ist als Thema präsent

Nicht zuletzt wurde die Wirkung von Erasmus+-Projekten in Bezug auf Inklusion & Vielfalt betrachtet: So erklärten 39 Prozent der befragten Projektteilnehmenden, in ihrem Projekt etwas über Inklusion gelernt zu haben. 43 Prozent der Projektteilnehmenden bzw. 56 Prozent der Projektleitenden gaben an, die Teilhabe junger Menschen mit geringeren Chancen stärker als vor dem Projekt zu unterstützen. Etwa zwei Drittel der Teilnehmenden an Fachkräftemaßnahmen bestätigten wiederum, dass das Projekt zu höherem Engagement für die Integration junger Menschen mit geringeren Chancen innerhalb ihrer Organisation oder Gruppe geführt habe.

Auch lohnt sich ein Blick auf die Ergebnisse einer Sonderauswertung der Daten der RAY-MON Studie, die sich mit den Effekten sozialer Ungleichheit auf die Lernergebnisse von Teilnehmenden an Projekten in Erasmus+ JUGEND IN AKTION befasst hat. Diese deuten darauf hin, dass junge Menschen, die aufgrund bestimmter Faktoren größeren Hürden gegenüberstehen als Gleichaltrige, mindestens genauso sehr von Projekten in Erasmus+ JUGEND IN AKTION profitierten wie andere Teilnehmende. Dies ist insofern bemerkenswert, als es dem häufig beobachteten Matthäus-Effekt zuwiderläuft, demzufolge Menschen mit besseren Startbedingungen auch stärker von Bildungsmaßnahmen profitieren.

Erkenntnisse und Schlussfolgerungen

Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass der inklusive Ansatz in den EU-Jugendprogrammen Wirkung zeigt: Das Bewusstsein für die Bedeutung von Inklusion und Vielfalt in den EU-Jugendprogrammen sowie das Engagement, die Priorität mit Leben zu füllen, sind aufseiten von Fachkräften und Projektleitenden groß.

Auch ist erkennbar, dass junge Menschen an Erasmus+-Projekten teilnehmen, die sich Hürden gegenübersehen. Zwar deuten die Hintergründe und Angaben der Befragten darauf hin, dass die am stärksten benachteiligten jungen Menschen nach wie vor schwerer Zugang zu europäischen Projekten finden – oder sich zumindest nicht an den Online-Befragungen beteiligt haben. Dennoch ist bemerkenswert, dass insbesondere finanzielle Herausforderungen für immerhin die Hälfte der befragten Projektteilnehmenden eine Rolle spielten. Grundsätzlich wären weitere Untersuchungen zum Hintergrund der Teilnehmenden an Erasmus+-Projekten auf der Grundlage objektivierbarer Indikatoren aufschlussreich. Insbesondere im Hinblick auf die Inklusivität der Programme und bestehende Zugangshürden wäre es zudem interessant, in Zukunft auch junge Menschen zu befragen, die sich zum Beispiel gegen eine Projektteilnahme entschieden haben oder denen eine Teilnahme nicht möglich war.

Die Zuordnung junger Menschen zur Kategorie „mit geringeren Chancen“ bzw. zu konkreten Benachteiligungskategorien wird im Rahmen der EU-Jugendprogramme als Indikator für die Inklusivität von Projekten herangezogen. Auf administrativer Ebene ist sie aktuell für die Darstellung der inklusiven Dimension und zusätzlicher Finanzbedarfe von Erasmus+-Projekten unabdingbar. Junge Menschen selbst identifizieren sich jedoch verständlicherweise häufig nicht mit Kategorien wie „soziale oder geographische Benachteiligung“, auch wenn sie sich tatsächlich Hürden bei Zugängen zu Bildung, Arbeit oder eben europäischen Projekten gegenübersehen. In der direkten pädagogischen Arbeit mit jungen Menschen ist diese Art der Kategorisierung ohnehin zu vermeiden, um Unterschiede, Benachteiligungen und Diskriminierungen nicht zu reproduzieren oder gar zu verstärken. Als Indikator für eine inklusive Programmumsetzung sollten daher weitere, qualitative Aspekte herangezogen werden, und zwar nicht nur in der Begleitforschung, sondern auch in der Bewertung von Projektanträgen: Inwiefern werden Projekte inklusiv gestaltet (barrierearme und inklusive Ansprache junger Menschen und Projektgestaltung)? Was hat trägt dazu bei, dass junge Menschen Hürden überwinden und teilnehmen können?

Die RAY-MON Daten und ihre Sonderauswertung zeigen somit, dass der inklusive Ansatz der EU-Jugendprogramme das Potenzial birgt, insbesondere Menschen mit schwierigen Startbedingungen besonders zu fördern und ihnen wertvolle Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Hierfür müssen diese jungen Menschen aber erreicht werden. Dass dies zum Teil bereits gelingt und dass insgesamt eine große Bereitschaft hierfür unter allen beteiligten Programmakteur*innen vorhanden ist, wird deutlich. Trotzdem müssen noch mehr Organisationen an Bord geholt werden, welche die Herausforderungen und Bedürfnisse von jungen Menschen kennen, die im Leben mit Benachteiligungen konfrontiert sind – und natürlich die jungen Menschen selbst, z. B. durch die Zusammenarbeit mit Organisationen, die europäische Jugendarbeit umsetzen, aber auch durch gezielte Unterstützung durch die Nationalen Agenturen.

Der nächste Beitrag zu den Wirkungen und Ergebnissen des Programms Erasmus+ JUGEND IN AKTION beschäftigt sich mit dem Schwerpunktthema "lokale Gemeinschaften".

Zum vollständigen RAY-MON Comparative Research Report 2014-2020 auf der RAY-Seite

Mehr zum RAY-MON Comparative Data Report 2014-2020

(JUGEND für Europa)