25.11.2021

comeback 2021: Dem Bauchgefühl folgen

Ein Freiwilligendienst im Ausland in Corona-Zeiten verläuft nicht immer wie geplant. Welche Hürden, Ungewissheiten, aber auch einzigartige Momente ihren Einsatz als Freiwillige im Europäischen Solidaritätskorps geprägt haben, erzählen Lena Müller-Falcke (19) und Benedikt Braun (20) beim comeback 2021.

"Einen Kulturschock hatte ich nie"

Lena Müller-Falcke (19) arbeitete zehn Monate in einer Sprachschule mit russischsprachigen Jugendlichen in Estland.

Eigentlich stand Schweden ganz oben auf der Liste – die wollten Lena Müller-Falcke aber nicht annehmen, sodass sich die damals 18-Jährige spontan im ihr bis dato unbekannten Estland bewarb. „Ich habe angefangen, zu Tallinn zu recherchieren und mich entschieden, im September 2020 für zehn Monate dort hinzugehen“, erinnert sie sich. Dass sie nach dem Abitur einen Freiwilligendienst in Europa machen wollte, wusste sie schon mit 15 Jahren.

Den Ausschlag für Estland gab dann die Tätigkeit an ihrem Einsatzort, der Britanica School: „Ich spreche und lerne gern Sprachen und es sollte auf jeden Fall etwas im sozialen Bereich werden“, sagt Müller-Falcke. In der Sprachschule half sie beim Englischunterricht mit, entwickeltet eine Art „Deutschstunde“, spielte mit den Kindern, bereitete die Stunden vor oder korrigierte Aufgaben – und das meist erst ab 12.30 Uhr. „Das war super, dadurch konnte ich die Vormittage für mich nutzen“, erinnert sie sich.

Mit Estnisch konnte sie sich nie zu 100 Prozent anfreunden: „Die Sprache ist wirklich schwer, es gibt allein 14 Fälle“, sagt sie. Am Ende konnte sie die Basics und einfache Konversationen. „Jetzt, im Nachhinein, bereue ich es ein bisschen, nicht noch mehr Arbeit hineingesteckt zu haben“, sagt Müller-Falcke.

Das Leben in einem besonderen Viertel

Die Sprachschule im von Plattenbauten geprägten Viertel Lasnamäe wurde vor allem von russischsprachigen Jugendlichen besucht: Knapp 70 Prozent der Bewohner*innen dort gehören zu dieser Minderheit. „Das war für mich einer der interessantesten Einblicke, da ich vorher nur wenig darüber wusste und oft nur die estnischen Stimmen und Vorurteile in dem Konflikt präsent sind“, sagt Müller-Falcke.

In dem Viertel wohnte sie mit sechs Mitbewohner*innen aus vier Nationen. „Tallinn ist sehr schön, vor allem die Altstadt und die typischen Skandi-Häuser. Aber unser Plattenbau etwas außerhalb war irgendwie auch identitätsstiftend, wenn man anderen davon erzählt hat“, sagt sie und lacht.

Durch das Zusammenleben habe sich auch ihr Bild von Europa verändert: „Als meine russischen Mitbewohnerinnen über das Beantragen von Visa gesprochen haben, habe ich so richtig zu schätzen gelernt, EU-Bürgerin zu sein“, erinnert sie sich. Einen Kulturschock hatte sie nie: „Menschen, Küche und Wetter sind recht ähnlich wie in Deutschland“, beschreibt Müller-Falcke die Parallelen trocken.

Es war eher die Pandemie, die für einige trübe Momente sorgte: „Corona ist bei uns in der WG herumgegangen, sodass wir knapp vier Wochen in Quarantäne ausgeschaltet waren, das war nicht einfach“, erinnert sie sich. Auch in der Sprachschule habe es immer wieder Fälle gegeben, aber dort sei man geräuschlos von einer Woche auf die andere auf Online-Unterricht umgestiegen.

Von einem zum anderen Ostsee-Strand

Wenn es um den Stand der Digitalisierung vor Ort geht, gerät sie ins Schwärmen: „In Estland hatte ich eine Art ID, die zugleich Versichertenkarte, Rabattkarte für den Bücherladen und ÖPNV-Ticket war – das war großartig!“, berichtet sie. „Seit ich zurück in Deutschland bin, fällt mir die Obsession hier mit Bargeld extrem auf – dort konnte ich immer mit Karte bezahlen.“ Aber nicht nur das ist Teil ihres Lebens geworden: Die Ostsee wieder vor der Tür zu haben, sei einer der Gründe, warum sie sich für den Studiengang ‚European Cultures and Society’ in Flensburg entschieden habe. Knapp 2.000 Kilometer östlich war der Pirita-Strand in Tallinn im Sommer ihr zweites Zuhause: „Da war ich mehrmals die Woche mit Freunden – unsere WhatsApp-Gruppe hieß sogar wie der Strand“, erzählt sie.

Auf die Frage, ob sie rückblickend etwas anders gemacht hätte, zeigt die Pandemie wieder ihren Einfluss: „Ich wäre gern noch mehr gereist und hätte gern Hobbies angefangen, zum Beispiel im Chor gesungen, Estland hat nämlich eine richtige Chorkultur“, sagt sie – durch Corona ging beides nicht. Das Jahr habe sie aber auch so verändert, sie denke jetzt nicht mehr so lang darüber nach, ob sie etwas mitmachen solle: „Einfach hingehen, es gibt nur eine Chance“, lautet ihr Motto für ihr Studium in Flensburg – und alle kommenden Stationen.

Ein neues Stück Heimat

Benedikt Braun (20) war ein halbes Jahr in der praxisorientierten Bildung in einem Jugendzentrum an der lettischen Westküste tätig.

Dass es für Benedikt Braun in den 40.000-Einwohner-Ort Ventspils an der lettischen Westküste ging, ging allein auf ein gutes Bauchgefühl zurück: „Ich bin vom Charakter schon eher gen Norden ausgerichtet und als ich mir die Beschreibung und Fotos der Stadt angeschaut habe, brauchte ich gar keine Pro-Contra-Liste mehr“, erzählt der 20-Jährige, der im bayerischen Passau studiert. Dass das Land ein Stück Heimat werden würde, in das er immer wieder zurückkommt, hätte er trotzdem nicht gedacht. „Vorher hatte ich mich bewusst nur für sechs Monate Freiwilligendienst entschieden, weil ich dachte, dass ich sonst den Anschluss in Deutschland verliere – aber dann wäre ich doch gern noch länger geblieben“, sagt er.

Durch die Pandemie musste sein Einsatzbeginn im Ventspils Youth House von Februar auf Juni 2020 verschoben werden. Dort arbeitetet das Team mit Projekten, Workshops und Veranstaltungen, um Jugendlichen, die Chance zu bieten, Dinge außerhalb der Schule zu lernen oder auszuprobieren. „Das Jugendzentrum war sehr kreativ und voller Energie“, erzählt Braun, bis es irgendwann wegen der Pandemie schließen musste.

Mit kleinen Projekten machte er trotzdem weiter, etwa zum Thema Lebensmittelverschwendung: „Ich bin mit Jugendlichen durch die Stadt gegangen und wir haben in Cafes und Restaurants gefragt, was dort mit Lebensmitteln gemacht wird, die übrig bleiben“, erzählt er. Aus den Daten entstand eine Statistik. Mit dieser seien sie an die Universität gegangen, um unter den Studierenden Umfragen dazu durchzuführen. Alle Daten wanderten in ein Abschlussevent, bei dem sie gemeinsam Lösungen gegen die Verschwendung präsentierten.

Zwischen Innovation und Zögern

Auch organisierte Braun in Ventspils einen Austausch zwischen Freiwilligen aus dem ganzen Land mit den Jugendlichen vor Ort. „Gerade am Anfang war ich sehr überrascht, wie interessiert, engagiert und aktiv die Jugendlichen waren und habe viel darüber nachgedacht, dass die Gesellschaft zuhause viel gesättigter ist“, erzählt Braun.

„Einerseits gibt’s in Lettland viel Innovation: fast jeder Jugendliche hat schon an einem Hackathon teilgenommen, andererseits scheint für viele das Auslandsthema unerreichbar weit weg“, erinnert er sich. Ihm fiel auch auf, dass es eine andere Einstellung zu Wohlstand gibt, viele in einem kleinen Garten selbst Obst und Gemüse anbauen. Auch, dass wir auf viele Dinge mit einer deutschen Sicht als mächtiges EU-Land schauen, sei ihm in Gesprächen vor Ort bewusst geworden.

Diese Perspektive bereichert ihn. Wovon er ebenso viel profitierte, war das Zusammenleben mit zwei weiteren Freiwilligen: „Mein Mitbewohner Jakob ist ein sehr enger Freund geworden und ich erzähle meiner WG hier in Passau fast jeden Tag von der Zeit“, berichtet Braun. Nach der Arbeit ging es oft gemeinsam zu kleinen Festivals, zum Beach-Volleyball oder zum Fußball spielen.

Stimmungskiller Dunkelheit

Probleme gab es selten. Das Einzige, was ihm zu schaffen machte, war die dunkle Jahreszeit: „Gerade im Winter war es total normal, dass an der Supermarktkasse Vitamin D auslag. Das fehlende Sonnenlicht hat sich extrem auf meine Stimmung geschlagen“, erinnerte er sich. Doch auch bei der Heimkehr blieben gemischte Gefühle: „Im Moment vom Flughafen nach Hause habe ich innerlich gemerkt, dass ich irgendwie enttäuscht war. Die ersten zwei Monate habe ich Zeit gebraucht, weil sich das teilweise so angefühlt hat, als sei zuhause alles wie vorher“, beschreibt er die Zeit.

Aber es dauerte nicht lang bis zum nächsten Trip gen Osten: Im Juni 2021 ging Braun für einen einmonatigen ESK-Einsatz nach Slowenien. In Idrija half er in der alten Minen-Stadt, die UNESCO-Weltkulturerbe ist, ein Haus zu renovieren. „Dort hat sich mein Interesse an dem Sprach- und Kulturraum nochmals bestätigt und ich habe jetzt ein European Studies-Studium mit Schwerpunkt Slawistik begonnen“, berichtet er. Auslöser seien die Freiwilligendienste und das Beschäftigen mit dem Erbe der Sowjetunion – natürlich hat er sich auch schon die Partneruniversitäten angeschaut.

(Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa / Fotos: privat)