02.05.2019

Das Europäische Solidaritätskorps erleben: Projektbesuch in Berlin

Jason aus Nordspanien und Vlad aus Sibirien leisten seit Juli 2018 ihren Freiwilligendienst im Europäischen Solidaritätskorps (ESK) im Kulturlabor-Kollektiv "Trial and Error" in Berlin-Neukölln ab. Der 25-jährige Jason hat Soziale Arbeit studiert, Vlad einen Abschluss in Wirtschaft – und nun sind sie bei Nähcafés, Upcycling, Kleidertausch und Do-It-Yourself-Workshops, Teil der Projekte rund um solidarisches und ökologisches Wirtschaften.

"Heute im Angebot" steht fett auf dem Pappschild, das an einem Ständer mit Winterjacken vor zwei Fensterscheiben hängt. Daneben sind vier Reihen Schuhe aufgereiht, gegenüber hängt ein Bücherregal an der Fassade, das sich rasend schnell mit Büchern füllt und wieder leert. Es ist nicht die Szenerie eines klassischen Ladens, denn Geld braucht man hier nicht. Seit Mai 2012 gehört der Tauschladen zum Neuköllner Kulturlabor "Trial and Error".

Der Tauschladen ist ein Ort der Begegnung von Menschen, die sich wohl sonst nicht unbedingt über den Weg laufen würden. Manche kommen jede Woche, so wie Siggi, der nach der Schicht auf dem Bau vorbeischaut, um sich nützlich zu machen. Inmitten der vielen Neuköllner schwirren Jason und Vlad herum, die beiden Freiwilligen im Europäischen Solidaritätskorps (ESK). Jason kommt aus Nordspanien, Vlad aus Sibirien. Gerade bauen sie die Körbe mit Kinderkleidung, Gürteln und Taschen auf, im Hintergrund spielt leise französische Musik.

Ein Schwirren wie im Bienenstock

Der Laden ist seit etwa einer Stunde geöffnet, da fällt Jason ein, dass er vergessen hat, den Holzaufsteller vor der Tür aufzustellen: "Es war direkt am Anfang so viel los, da haben wir den Hinweis auf den Tauschladen vergessen – aber das ist Trial und Error-Style", lacht er und stellt das Schild ab. Er geht in den Laden zurück zu einem Schrank mit Jeans und beginnt, Kleidung einzuräumen: "Wir bitten die Leute darum, ihre mitgebrachten Kleider selbst in die Regale einzuräumen und nicht nur die Taschen abzugeben. Das verstehen wir hier unter Solidarität", erklärt der 25-Jährige.

Sich gegenseitig unterstützen mit Dingen, die man nicht mehr braucht, ist auch für ihn persönlich normal geworden. "Manchmal entstehen hier zufällig so tolle Beratungssituation, das ist viel besser als im Geschäft, weil es hier ja keine Gewinnorientierung gibt", erklärt er. "Der Mix an Menschen, die hier herkommen, ist einzigartig", sagt er. Aber nicht nur die Arbeit mit den Menschen, auch das Verteilen von Flyern und Postern, machen ihm Spaß. 

"Gib, was du nicht mehr brauchst; Nimm, was dir gefällt", erklärt Max Schützeberg, der das Projekt und die beiden ESK-Freiwilligen im Verein mitbetreut. "Der Tauschladen ist eine echte Bereicherung für den Kiez, das haben wir daran gemerkt, dass wir mal die Uhrzeit gewechselt haben. Das hat nur für Chaos gesorgt", erzählt er.

Über solidarisches Wirtschaften eine Alternative zum Kapitalismus bieten – das ist das Ziel des Kulturlabors. "Viele Leute sind gar nicht mehr daran gewöhnt, dass man etwas bekommen oder geben kann, ohne eine Gegenleistung. Das wollen wir hier durchbrechen", erklärt er und deutet auf seine schwarze Jogginghose: "Die hat vorher einer Frau gehört. Das merke ich daran, dass die Taschen etwas kleiner sind. Aber natürlich kann man die trotzdem gut tragen."

Neben ihm steht das Lastenfahrrad des Vereins. Maureen, eine ehemalige Freiwillige, hat es gebaut und jetzt trägt es denselben Namen wie sie. Wer das Fahrrad braucht, kann es sich ausleihen. „Wir verstehen uns hier als Kreativraum und bieten auch den Freiwilligen an, eigene Projekte umzusetzen – nicht nur hier im Kiez, sondern auch mit einer internationalen Komponente“, erklärt Max. Dadurch, dass man als Kollektiv organisiert sei und es weniger feste Strukturen gebe, stelle es manchmal aber auch eine Herausforderung dar, die Bedürfnisse der Freiwilligen zu erkennen. Aus diesem Grund seien die meisten Freiwilligen auch etwas älter und kämen aus bekannten Kollektiven im Ausland. 

Ein Jahr Pause vom Kapitalismus

Bei Vlad war das nicht so. Er ist 22 Jahre und hat vorher einen Bachelor in Wirtschaft gemacht: "In Sibirien sind wir so weit weg von den Themen Zero Waste und grünes Wirtschaften, weshalb ich mich selbst herausfordern wollte. Eigentlich mag ich den Kapitalismus", erzählt er. Doch nach dem Studium brauchte er ein Jahr Pause. Dass es Deutschland als Einsatzland werden sollte, stand fest: "Ich wollte meine Sprachkenntnisse verbessern, aber eine spezielle Einsatzstelle oder ein Themenfeld hatte ich nicht vor Augen."

Besonders angetan haben ihm es jetzt das Foodsharing und die internationale Projektarbeit. "Ich helfe momentan beim Fundraising und begleite Trainingskurse für Jugendliche und Erwachsene", erzählt Vlad. Bei einem der Trainings tauschten sich Künstler aus Berlin und der Ukraine künstlerisch aus. Bei einem anderen Projekt brachte er anderen bei, wie man einen Tauschladen aufbaut.

"Den ersten Monat war ich zwölf Stunden am Tag hier, weil ich Angst hatte, irgendetwas zu verpassen", erinnert er sich. Bereut hat er das bis heute nicht, aber das anfängliche Gefühl, sich in Berlin sich selbst zu finden, hat sich nicht bewahrheitet: "Der Winter war sehr hart, weil ich kaum Freunde außerhalb des Kulturlabors gefunden habe und ich meine Freunde in der Heimat vermisst habe", erzählt Vlad. Jetzt würde er gerne bleiben, doch Visa und der anstehende Militärdienst machen das nicht so leicht.

"Berlin ist für mich sehr stark mit dem Begriff Solidarität verknüpft. Ich sehe viele Leute, die sich bemühen, etwas Gemeinsames aufzubauen. Das fällt mir besonders auf, weil ich aus einem Land bin, in dem das kein großes Thema ist", sagt er. "Ich nehme diese Werte mit nach Hause, auch wenn ich nicht so gut darin bin, das dann auch umzusetzen", lacht er.

Jason hat über ein Kollektiv in Nordspanien von dem Neuköllner Kulturlabor erfahren. In seiner 80.000-Einwohner-Heimatstadt arbeitete er bei der Gemeinde im Bereich Jugendarbeit. Aber seine Stadt wurde ihm zu klein. Und trotzdem: "Die Kultur der Deutschen ist schon ganz anders, viel weniger spontan", sagt er über seine neue Heimat. Und auch mit den Sprachen gab es einige Startschwierigkeiten: "Als ich ankam, habe ich in den Teammeetings auf Englisch kaum etwas verstanden", erinnert er sich an die Überforderung in den ersten Wochen. "Jetzt komme ich gut klar und habe das Gefühl, dass ich mit der Zeit besser verstehe, wie die Leute hier denken", lacht er. Trotzdem sei Berlin wahrscheinlich der schlechteste Ort, um Deutsch zu lernen, weil alle Englisch können. Immer Montag hilft Jason außerdem bei der Öffentlichkeitsarbeit in einem Klimaschutzprojekt, und auch beim Fundraising und Projektanträgen kann er sich einbringen. "Ich hoffe, dass ich nach Ende meines ESK in Berlin bleiben und hier im Kulturlabor weiter mitwirken kann", verrät er.

Zum Einsatz von Jason und Vlad gehörte trotz der multikulturellen Umgebung anfangs auch, mit Stereotypen konfrontiert zu werden: "In einer meiner ersten Wochen hier wurde ich gefragt, ob wir in Sibirien überhaupt richtige Städte und Internet haben und man mit Karte bezahlen kann“, erinnert sich Vlad. "Das war lustig, weil das in Sibirien alles tatsächlich viel besser klappt als in Deutschland", sagt er. Ähnliches hat auch Jason erlebt: "Wenn ich erzählt habe, dass ich aus Spanien komme, haben die Leute hier im Sommer immer gesagt, dass mir das heiße Wetter doch gefallen müsste, dabei ist es in Nordspanien fast nie 40 Grad heiß", sagt er und rollt mit den Augen. 

(Text: Lisa Brüssler für JUGEND für Europa / Bilder: David Ausserhofer)

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