24.02.2015

Wenn die Flüchtlingsproblematik plötzlich sehr real wird

Iris Bokelmann (26) kommt aus der Nähe von Hannover und hat während ihres Europäischen Freiwilligendienstes in einem Flüchtlingsprojekt in Rovigo, Italien, gearbeitet. Dort werden seit Juni 2014 Flüchtlinge aufgenommen, unter anderem aus Syrien. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie sie die Arbeit erlebt hat und wie sie die europäische Flüchtlingspolitik einschätzt.

JfE: Du hast bei der Organisation "Arcisolidarietà" in Rovigo in Norditalien gearbeitet. Was genau sind die Aufgaben der Organisation?

Iris Bokelmann: Die Organisation wurde im Jahr 2000 gegründet. Sie unterstützt in erster Linie Obdachlose und MigrantInnen. Da in Italien nun die ganzen Erstaufnahmestellen für Flüchtlinge überfüllt sind, kommen mittlerweile auch Flüchtlinge in Projekte wie Arcisolidarietà. Die Flüchtlinge bleiben in der Regel nur kurz in der Organisation, da Italien Transitland ist.

Während der Zeit, in der ich da war, sind aber auch fünf Flüchtlinge in der Organisation geblieben und versuchen, in Italien Asyl zu beantragen. Wenn es diese Organisationen nicht gäbe, ich wüsste nicht, wo die Flüchtlinge dann hinkämen. Es gibt schon viele solcher kleiner Organisationen, weil es sonst keiner macht.

Warum hast Du Dich für dieses Projekt entschieden?

Ich habe mich schon vorher immer mal wieder mit der Flüchtlingsproblematik auseinandergesetzt. Die Flüchtlinge kommen in Italien an und reisen in andere Länder wie Deutschland weiter. Um das Problem wirklich zu verstehen, wollte ich nach Italien gehen und das vor Ort miterleben. Im Rückblick war das genau das Richtige. Nach diesen acht Monaten weiß ich auf jeden Fall, dass ich in diesem Bereich weiterarbeiten will – in Deutschland mit MigrantInnen und Flüchtlingen. Ich muss noch herausfinden, wie das möglich ist, da ich vorher VWL und Indologie studiert habe. Und keine Sozialpädagogik.

Wie finanziert sich die Organisation?

Die Organisation arbeitet nur mit EhrenamtlerInnen. Ohne ehrenamtliches Engagement würde das nicht funktionieren. Die Leiterin der Organisation ist eine pensionierte Lehrerin. Sie hat zuvor in der Politik gearbeitet, da hat sie gesehen, dass immer nur geredet wird, aber niemand etwas tut, so dass sie die Organisation gegründet hat – zunächst als Obdachlosenheim und dann sind auch die anderen Sachen dazu gekommen. Der laufende Betrieb wird von Kommune und Regierung finanziert.

Wie hast Du die Arbeit mit den Flüchtlingen erlebt?

Im Juni hatten wir das erste Mal eine Familie aus Syrien – an einem Samstag sind sie angekommen und am Dienstag sind sie direkt weiter nach Deutschland gefahren. Einer der Söhne der Familie war Anfang 20, ähnlich alt wie ich, hatte studiert und war in einer ähnlichen Situation. Das war schon krass, ich hatte nicht das Gefühl sie seien so weit weg von mir selbst.

So realisiert man, dass Krieg real ist und dass das Menschen passiert und diese Menschen herausgeschlagen werden aus ihrem normalen Leben. Vorher hatten sie ein normales Leben in Syrien. Durch den Krieg mussten sie Syrien verlassen und sich die Flucht übers Meer antun, sich in Menschenhandel begeben, weil sie keine andere Wahl hatten. Vor allem weil es keine legalen Fluchtwege nach Europa gibt.

Wie ging es Dir in Konfrontation mit den Schicksalen?

Bei der ersten Familie fand ich die Vorstellung noch schwierig, dass sie nach Mailand gehen und dann nach Deutschland und man dann gar nicht weiß, was aus ihnen wird. Mit der Zeit hat man sich quasi ein bisschen daran gewöhnt, Schritt für Schritt. Klar war es trotzdem manchmal noch schwierig, aber dann war es schon so, dass man loslassen konnte und man sich gesagt hat, man hat denen hier in dem Moment geholfen und dass schon alles gut werde, auch wenn man es nicht weiß. Man ist halt ein kleines Glied in der Kette und das ist auch in Ordnung so.

Gab es Aufarbeitungsarbeit von Seiten der Organisation?

Als ich gefragt habe wie ich damit umgehen soll, da meinten alle, das käme mit der Erfahrung, das müsse jeder für sich selbst herausfinden. Von daher hing ich ein bisschen in der Luft. Die Organisation schafft es aber neben dem Alltag einfach nicht, Aufarbeitungsarbeit zu leisten. Die Sorge um die Flüchtlinge steht im Vordergrund und da bleibt wenig Zeit für andere Dinge.

Wie stellt sich der europäische Kontext der Flüchtlingsproblematik vor Ort in Italien dar?

Die Flüchtlingsproblematik betrifft eigentlich ganz Europa. Dennoch ist Italien eines der Länder, die am meisten darunter leiden. Laut europäischer Gesetzgebung müssen Flüchtlinge in dem Land, in dem sie zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben, ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Sie können dann nur in diesem Land Asyl beantragen. Das lädt die größte Last natürlich auf Länder wie Italien ab.

Im Sommer 2014 hat Italien nicht darauf bestanden, dass die Leute sofort die Fingerabdrücke hinterlassen, sondern ihnen ein paar Tage Luft gelassen, damit sie weiterreisen konnten, falls sie das wollten. Oder sich selbst dafür zu entscheiden, in Italien zu bleiben und dort Asyl zu beantragen. Anfang September hat es sich allerdings geändert. Unter anderem auf Druck von Deutschland setzt Italien die Regelung strikter um. Seitdem müssen die Flüchtlinge die Fingerabdrücke sofort abgeben, bevor sie überhaupt in der Erstaufnahme ankommen.

Wie schätzt Du die Flüchtlingspolitik der EU ein, speziell vor dem Hintergrund Deiner Erfahrungen im Projekt?

Das Problem ist, dass die Flüchtlinge in dem Land den Asylantrag stellen müssen, in dem sie die Fingerabdrücke abgegeben haben, was ja naturgemäß die mediterranen Länder sind und vor allem Italien. Wenn Sie versuchen, in anderen europäischen Ländern erneut Asyl zu beantragen, werden sie aufgrund der Speicherung ihrer Fingerabdrücke, wieder in das Ankunftsland zurückgeschickt. Dies geschieht auch, wenn sie dort auf der Straße sitzen und es keinerlei staatliche Unterstützung gibt. Die anderen Länder entziehen sich der Verantwortung. Den Flüchtlingen wird der Zugang zu Schutz teilweise verwehrt und den Leuten in der Politik ist scheinbar nicht klar, was sie da eigentlich machen, dass es sich bei  Flüchtlingen um Menschen handelt.

(Das Interview führte Babette Pohle im Auftrag von JUGEND für Europa.)

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Mehr über die Arbeit der "Arcisolidarietà" in Rovigo erfahren Sie hier...

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